Dystopie Plus. Zara Zerbe: „Phytopia Plus“

Zara Zerbe webt in ihrem düster-humorvollen Roman „Phytopia Plus“ ein spannendes Netz aus Informationen und Spekulationen über die Zukunft unserer Gesellschaft. Gekonnt verknüpft sie Ansätze zur künstlichen Intelligenz und menschlicher Empathie – und verbindet dies mit dem Themenkomplex Altern und Tod.

Die Menschheit träumt seit geraumer Zeit davon, Zara Zerbe macht es nun möglich. Wie wäre es, wenn wir wirklich ewig leben könnten – doch nur als Sammlung unserer Erinnerungen, als künstliches Bewusstsein, und im Inneren einer Pflanze?


Die Hamburger Autorin Zara Zerbe hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert und lebt als freie Autorin in Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Literaturmagazins „Der Schnipsel“ und veranstaltet die „Lesebühne FederKiel“. Ihre Erzählung „Limbus“ ist 2020 im Sukultur Verlag erschienen, 2021 erschien die Novelle „Das Orakel von Bad Meisenfeld“ im stirnholz Verlag.

Zerbes Debütroman „Phytopia Plus“ gewährt Lesenden ein literarisches Panorama auf eine düstere Zukunft, die, obwohl sie einerseits als absolut unvorstellbar erscheint, zugleich ungemütlich nahe an der Realität ansiedelt.


Klimakrise. Erderwärmung. Immanenter Tod für Tier und Mensch. Leere Regale im Supermarkt und ein Leben an der Armutsgrenze in unausstehlicher Hitze – Die 2040er Jahre sind alles andere als fett.

Doch gibt es einen Lichtblick für die (superreiche) Menschheit: Der Hamburger Biotech-Konzern Drosera AG bietet für locker-flockige 350.000 Euro die Möglichkeit der digitalen Speicherung des Bewusstseins.

Diese erfolgt auf eine frei wählbare Pflanze.


Aylin arbeitet als Aushilfe für Drosera AG. Sie verbringt ihre Tage in den Gewächshäusern und pflegt die Pflanzen mit mehr Präzision und Hingabe als sie einem Familienmitglied – geschweige denn sich selbst – je würde zukommen lassen können. Von einer Speicherung kann sie nur träumen. Doch würde sie alles tun, um es ihrem Großvater zu ermöglichen.

So richtig überzeugt ist Aylin von der Firma und dem Konzept allerdings nicht – weder ideologisch noch wissenschaftlich. Doch sind Faktoren wie ein stabiler Mindestlohn, ein Arbeitsplatz fern der unerträglichen Hitze und der Zugang zu Pflanzen ausschlaggebend für ihre Motivation, ihre Stelle zu Behalten.


Wenn sie sich voneinander unbeobachtet fühlen,
halten sie ihre Fingerspitzen, Wangen oder Ohren
ganz nah an die Blätter der Pflanzen.(17)


In erschleichten Momenten versucht Aylin mit den Pflanzen zu kommunizieren; zu ertasten, ob eine Bewegung ober- oder unterhalb der Blattoberfläche festzustellen ist. Ob sich in den Pflanzen wirklich Menschen befinden, die denken und hören und kommunizieren können.

Denn so unplausibel das Ganze erscheint, möchte Aylin daran glauben. Schon wegen ihres Großvaters.

Wissenschaftlich wäre sie dem Informationspensum trotz Neugier und guten Schulnoten bei Weitem nicht gewachsen. Und zum Labor hat Aylin eh keinen Zugang. Doch plötzlich öffnet sich eine unglaubliche Möglichkeit, ihre Wünsche und Ambitionen zu erfüllen – die allerdings nicht nur ihre Arbeitsstelle in Gefahr bringt.


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Aylin und ihre Kolleg*innen in den Gewächshäusern werden von einer KI namens Bella überwacht und organisiert, die wie jedes künstliche ‚Gehirn‘ Vor- und Nachteile mitbringt. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Mitarbeitenden Bella personifizieren und wie ihre illusorische Macht bei Kolleg*innen höherer Ränge sofort dekonstruiert wird, während sie die Aushilfen gnadenlos im Zaum hält.

Die ‚radikalmenschliche‘ Komponente in der Handlung wird mittels Aylins Großvater gestellt, eine Figur, die weitere Komplexitäten ins figurendynamische Gewebe einfügt. Wir lernen, dass sein Migrationshintergrund ihm offensichtlich soziale und wirtschaftliche Nachteile eingebracht hat, obwohl seine Intelligenz seine erarbeitete Position bei weitem übertroffen hat. So erwähnt er, in seinem eigenen – botanisch überragend ausgestatteten, mehrsprachigen – Bücherregal blätternd, dass er während seiner Ausbildung zum Gärtner „nicht ein einziges Buch lesen [hätte] müssen, das so kompliziert war. Doch immerhin wusste ich deswegen Einiges. Und war damit nicht nur der Jugo, sondern auch der Klugscheißer.“ (102)

Wohl gemerkt, konnte Aylins Großvater aufgrund von entsprechenden Hindernissen lediglich eine Ausbildung abschließen, die sich auch auf die soziale Position der Enkelin ausübt. Eine unerwartete Nuance, die Zerbe sehr organisch ins Buch einfließen lässt.


Woher soll denn ein Computer wissen, wie es Pflanzen geht?

Man braucht ein intaktes Herz, um sich richtig
um sie kümmern zu können.“(39)


Doch geht es nicht nur um Aylins Position in der Gesellschaft – und darum, wie sie ihre wirtschaftliche Bredouille mit einem zwielichtigen Nebenjob ausbessert, der sie schlussendlich in allerlei Schwierigkeiten bringt – es geht um existentialistische Fragen, die sich um die semantischen Schnittstellen des Organischen und Anorganischen, des Menschlichen und des Künstlichen, des Geborenen und des Gemachten beschäftigen.

Ist auch eine Arbeitsbeziehung mit dem künstlichen Vorgesetzten eine parasoziale Beziehung, wenn mensch sich über ‚Bella‘ und nicht ‚die KI‘ ärgert? Wenn Maschinen überhaupt menschliche Emotionen evozieren? Sind die Pflanzen als Freunde anzusiedeln, wenn sich Aylins Gespräche in ihrer eigenen Vorstellung in Dialoge wandeln? Wenn sie, „noch einen Blick auf den Steckling von 4A-151289 [wirft], der in seinem Topf ganz prächtig gedeiht“, und die Pflanze ihr zu sagen scheint: „Ich habe es gut bei dir […]. Es war richtig, mich da rauszuholen.“? (69)


„Phytopia Plus“ ist ein faszinierendes Geflecht an psychologischen, moralphilosophischen und universalmenschlichen Themenkomplexen, welches durch diverse spannende Perspektiven bereichert wird. Ohne Kritik soll allerdings auch diese Romananalyse nicht auskommen. Mehrere Nebenfiguren sind ziemlich farblos gestaltet und erscheinen für die Handlung überflüssig, gerade Aylins engster Kollege Joe fällt fad aus.

Generell erscheinen allerdings gerade die männlich gelesenen Figuren – mit der Ausnahme von Aylins Großvater – eher stumpf und zahm zu sein. Vergleichsweise lassen sich die Frauen* entweder als subversiv oder aber unsympathisch beschreiben – allenfalls besitzen sie präziser ausgefeilte Persönlichkeiten und polarisieren stärker. Ist diese Dynamik gewollt? Steckt zwischen den Zeilen mehr geschrieben zum Aspekt Männer- und Frauenbild – oder suche ich vergeblich nach Anhaltspunkten, wie Aylin nach Lydia Kaufmann?

(Wer den Roman gelesen hat, versteht, warum dies eine rhetorische Frage war).

Das Dystopische wird ferner mit dem Mysteriösen gemischt, da eine bestimmte Pflanze ein ausgiebiges Eigenleben in Aylins Wohnung entwickelt (aus Anspruch der Spoilerfreiheit verbleibe ich in der Formulierung so vage wie möglich). An dieser Stelle wird die Idee eines künstlich replizierten menschlichen Bewusstseins eingeführt, der sich als Virus in einem anderen operativen System niederlässt. Es wird nicht ausgiebig darüber sinniert, ob das das andere System nur stören wird oder es vollständig zum Absturz bringt – doch sind auch in dieser Hinsicht genügend Ansatzpunkte für eine tiefsinnige Reflexion vorhanden.


Ob das ganze Buch wissenschaftlich irgendwie aufgeht und wie viel realistische Tragfähigkeit beispielsweise die finnische Bibliothek hat, die „ihren kompletten digitalen Bestand auf bemoosten Steinen abgelegt hat, genauer im Moosteppich auf den Findlingen, die seit der Eiszeit dort liegen“ (119) kann ich mit meinen (fehlenden) Fachkenntnissen grundsätzlich nicht beurteilen. Zerbe geht ausreichend ins Detail, um meine Wahrnehmung zumindest im Vorbeigehen zu überzeugen.

Detaillierte Recherchen überlasse ich an dieser Stelle anderen – und freue mich auf sachkundige Kommentare.

Des Weiteren wird auf Simone Weils Werk „L’enracinement“ hingewiesen – Weil war eine französische Philosophin, die auf die reale, aktive und natürliche Teilhabe eines Menschen an einer Gemeinschaft, die „Verwurzelung“, hinwies. Inwiefern sich hier eine weitere moralphilosophische Metaebene auftut und ob Weil Menschen und Pflanzen auch im inhaltlichen als verwandte Seelen ansiedelt, bleibt anhand des Textes interpretationsoffen und in botanisch und philosophisch geneigten Leserunden zu diesem Roman ggf. anzusprechen.

Ich freue mich auf Kommentare zu diesem Aspekt und allen anderen Teilthemen des Romans – denn in „Phytopia Plus“ wohnt Gesprächspotenzial in erheblichen Mengen.


Schließlich ist es gar nicht das Sachliche, Wissenschaftliche, empirisch Prüfbare – sondern das Unbehagliche, Fehlende, Unheimliche, welches nach der Lektüre am stärksten in Erinnerung bleibt. Die Pflanzen selbst. Denn auch sie erhalten eine Stimme im Buch.

Eine Facette dieser internen Kommunikation – die immer in der Gruppe erfolgt, weil die Pflanzen vernetzt sind – ist der Blick auf die „großen beweglichen Wesen“ (196) Menschen, die sich im Vergleich zu den natürlich vernetzten Pflanzen zunächst ein Netzwerk aufbauen mussten.

Der Humor ist nicht zu übersehen:


So ein Ersatznetzwerk. Voller Informationen.
Nicht mal alle sind hilfreich.

Wer würde da nicht verrückt werden?(196)


Doch das wahrhaft einprägsame ist das, was die Pflanzen alle zu wissen scheinen; diejenige Information, die uns Lesenden auch bis zum Schluss verborgen bleibt. Das Wissen ums Ende, um den Ausgang verschwundener Pflanzen – und die Wahrheit zur Frage, ob und wie gut die Bewusstseinsübertragung eigentlich funktioniert.

Aylin selbst wird von den Pflanzen in ihrem Werdegang und ihrem Wesen beobachtet und analysiert, sie sei „geografisch betrachtet immer am selben Ort geblieben, […] aber geistig entwurzelt, verbannt, und dann, als sei sie nur geduldet, als Arbeitstier wieder aufgenommen worden.“ (49)

Die Sichtweise der Pflanzen ist zwar als eine schonungslose Kritik an denjenigen zu lesen, die in der gesellschaftlichen Hackordnung eigentlich auf Augenhöhe mit den Reichen und Erfolgreichen Übertragenen wären – doch ist hier auch keine empathische Note für die beobachtete Person zu finden. Die Pflanzen sind und bleiben unnahbar, was sie besonders makaber gestaltet.


Der absolute Höhepunkt der Geschichte ist ihr mystisches Ende – einiges bleibt offen und ungeklärt, doch bieten die getroffenen Entscheidungen vor allem genau die richtige Menge für eigenständige Spekulationen.

Oder zum Verfassen eines zweiten Teils, über den ich mich zumindest enorm freuen würde.

Zara Zerbes „Phytopia Plus“ ist eine großartige Dystopie Plus, für die ich sehr gerne eine Leseempfehlung ausspreche.

Bibliografie

Titel: Phytopia Plus
Autor*in: Zara Zerbe

272 Seiten | 25,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 15.03.2024
Verlag: Verbrecher

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