Totentanz unter Sternenhimmel. Martina Hefter: „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“

Für ihren neuesten Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ erhielt Martina Hefter den Deutschen Buchpreis 2024.

Gepriesen wird das Buch als eigensinnig, verspielt, ungewöhnlich; sanft und doch frech, tänzerisch und lyrisch. Hefter setzt sich in ihrem Roman unter anderem mit den Themenkomplexen Liebe, Einsamkeit, Krankheit und Altern auseinander – und hat auch in meinen Augen den Puls unserer Zeit hervorragend getroffen.


Martina Hefter lebt als Autorin und Performerin in Leipzig. Ihre Texte bewegen sich zwischen Gedicht, szenischen Schreibformen und Roman. Viele ihrer Texte setzt sie in Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen szenisch um. Hefter veröffentlichte bisher drei Romane und fünf Gedichtbände, ihre Lyrik erscheint im kookbooks Verlag. Für ihren letzten Roman, „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“, erhielt sie 2024 den Deutschen Buchpreis.


Kommt her zu Juno.
Sie will mit euch spielen.“(8)


Augenscheinlich liegt der Hauptfokus von „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ auf dem Themenkomplex Love-Scamming. Diese mittlerweile gut beleuchtete Ecke des Internets galt viele Jahre lang als eine hinterhältige Dunkelkammer für Unwissende und online Unbewanderte und inspiriert bis dato spannende Geschichten.

Doch birgt Hefters Buch wesentlich mehr an thematischer Bandbreite, diskursivem Material und Resonanzboden, als im Pressetext geboten. Es spiegelt unglaublich viele Facetten und Brennpunkte der aktuellen deutschen Gesellschaft wieder, parasoziale Beziehungen gehören lediglich dazu.


Leben, lieben, lügen – und auf Kosten naiver reicher Menschen ganz leicht ans große Geld kommen: so arbeiten Love-Scammer. Durch vorgetäuschte Gefühle und vorgeheuchelte gemeinsame Zukunftspläne betrügen junge mittellose Männer ältere wohlhabende Frauen um ihr Herz und ihr Geld, lassen nach und nach tausende Euro auf ihr Konto überweisen – um dann irgendwann spurlos zu verschwinden.

Doch die Protagonistin Juno kennt das abgekartete Spiel – und nutzt die jungen Männer für ihre persönliche Zwecke aus. Aus eigenen Lügen erstellt Juno eine Fantasiewelt, in der sie vollständig frei sein kann, und flieht regelmäßig dorthin.

In ihrem realen Alltag bleibt Juno nämlich gefesselt – ob sie nun imstande ist, ihre Wohnung zu verlassen oder nicht. Denn etwas, jemand, fesselt ihr Herz und ihre Seele.


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Wie sich in einem Interview auf der Frankfurter Buchmesse herausstellte, hatte auch Martina Hefter persönliche Erfahrungen mit dem Love-Scamming gesammelt, ehe es mit dem Schreiben losging. Inspiration aus dem eigenen Leben schöpfte die Autorin allerdings in vielerlei Hinsicht.

Die zweite Hälfte der Erzählwelt setzt sich nämlich aus der Realität Junos (inspiriert durch die Realität von Martina Hefter) zusammen, die wesentlich weniger selbstbestimmt, filterfrei oder hemmungslos ist. Weder macht sie Party auf einem Riesenboot, raucht Geldscheine oder unterhält drei Lover.

Junos Tage füllen sich mit Sorge um ihren Partner Jupiter – der sich aufgrund einer schweren Krankheit an schlechten Tagen weder eigenständig zum Bad bewegen noch Socken anziehen kann.


Juno war in Wahrheit Nijinsky.

Flügel an den Füßen,
Messer im Hosenbund.(25)


Dabei besteht Junos berufliches Leben aus Bewegung: Sie ist (wie auch Martina Hefter) Tänzerin und Performerin. Vor Kurzem hat sie erneut mit Ballettstunden begonnen, choreographiert parallel eine eigene Performance – und bewegt sich eigenständig, wie eine junge, vitale, dynamische Person, durchs Leben.

Um dann abends in Einsamkeit zu vergehen, ihr eigentliches reelles Potential zwar ebenso ausschöpfend, doch zeitgleich auf eine unvermeidbare Kollision wartend.


Sie lebte auf diesem Planeten.
Nicht auf dem, der getroffen wurde,
sondern auf dem anderen.

Dem Planeten Melancholia.(28)



Wenn Juno sich mit Love-Scammern unterhält, beschreibt sie meist Filme, die ihre Gedanken derzeit beschäftigen, doch der Film „Melancholia“ von Lars von Trier und die darin beschriebene unumgängliche Konfrontation mit dem Tod stehen oft im Mittelpunkt. Die Aussicht aufs Ende – nicht in zwanzig Jahren, sondern in ein paar Tagen – ist das, was Juno beschäftigt und graduell innerlich demoliert.

Wohl gemerkt nicht ihr eigenes Ende, sondern das von Jupiter. So frei und wohl Juno sich auf der Bühne fühlt, sosehr ist es ihr parallel „inzwischen egal, wenn sie nachts draußen auf der Straße weint“ (30). Denn was bringen Vitalität und Lebensfreude, wenn sie nicht dem liebsten Menschen geteilt werden können?

Die Komplexitäten dieser Einsamkeit – und der gemeinsame Kampf um die Autonomie Jupiters – sind in meinen Augen das eigentliche Kernstück von „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“. Hefters Darstellungen, die Komplexitäten Junos, sind herzzerreißend und inspirierend zugleich: sie lässt sich tätowieren, bietet Leipziger Neonazis die Stirn, kritisiert lautstark soziale Ungerechtigkeit – und tanzt sich mit einer geradezu unmöglichen Leichtigkeit durchs Leben, auch wenn das, was zu Hause passiert, immer wieder auf sie einschlägt.

Der gemeinsame und der einsame Kampf bestehen aus guten und schlechten Tagen – die Martina Hefter im Allgemeinen und im Besonderen hervorragend einfängt. Jupiter ist nicht nur Anhängsel, nicht nur ‚der Kranke‘, auch auf seine Gedanken und Person wird eingegangen. Als Autor ist Jupiter erfolgreich, die Nuancen dieser beruflichen Realität, der Sichtbarkeit in einer Nische in Gegenüberstellung mit der Unsichtbarkeit in der Gesellschaft, werden ebenso feinfühlig berücksichtigt.


Es bleibt vielleicht noch hinzuzufügen und zu betonen, dass hier nicht ausschließlich von der Realität geschöpft worden ist, „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ ist weder Tagebuch noch Nachahmung. Autofiktionale Facetten werden durch literarische Ausarbeitungen bereichert und ergänzt, das Panorama des Echten wird in ein Netzwerk von Ideen und Handlungslinien eingebettet und wird zum Text, zur Geschichte, zum Werk – zum Roman. Das Mimetische an dieser Geschichte ist ein Teil der Erzählwelt und kein Nachteil in puncto literarische Authentizität. Die Handlung besteht aus vielen faszinierenden Aspekten, die nach meiner persönlichen Lektüre des Romans noch nach Wochen nachhallen und neue Verknüpfungen bilden.

Die emotionale Echtheit, die sprachliche Knappheit, die lyrische Ausrichtung (obwohl „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ ein Prosatext ist, sind gewisse rhythmische Strukturen nicht zu übersehen) und die Tonalität des Romans fesseln und überzeugen.

Martina Hefters einfühlsame Art und Weise, sich souverän mit entsetzlichen Themen an den Schreibtisch zu setzen und diese nach und nach, still und ruhig lächelnd, zu verarbeiten, ist nicht weniger als enorm beeindruckend.

Es gäbe noch einiges zu loben, zu besprechen und hervorzuheben – doch möchte ich die Entdeckung der restlichen Aspekte des Romans Dir überlassen. Wenn Du ihn bereits gelesen hast, freue ich mich sehr auf Gedanken und Feedback in den Kommentaren.

Bibliografie

Titel: Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Autor*in: Martina Hefter

224 Seiten | 22,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 13.07.2024
Verlag: Klett-Cotta

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1 Antwort

  1. Weil es so gut passen würde, kann ich an dieser Stelle einfach mal das Buch „Krüppelpassion: oder vom Gehen“ von Jan Kuhlbrodt, dem offensichtlichen „Jupiter“ in diesem Buch, empfehlen.

    Dafür lese ich dann zeitnah Martina Hefter. 🙂

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