Von Sisyphos zu Superman. Stefanie de Velasco: „Liebe Stella oder Radikal hoffnungsvoll in die Zukunft“

Stefanie de Velasco verfasst mit „Liebe Stella oder Radikal hoffnungsvoll in die Zukunft“ nicht nur einen Brief an ihre ungeborene Tochter, sondern ein Plädoyer für heranwachsende Generationen.

Was ist radikale Hoffnung – und wie können wir uns von „Liebe Stella“ inspirieren lassen?


Stefanie de Velasco wuchs als Kind spanischer Einwanderer im Rheinland auf. Ihr Debütroman „Tigermilch“ wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt. Zuletzt erschien ihr Roman „Das Gras auf unserer Seite“, welchen auch ich mit viel Begeisterung geschmökert habe. De Velasco lebt mit ihrem Hund in Berlin.

„Liebe Stella oder Radikal hoffnungsvoll in die Zukunft“ gehört zur Reihe „Briefe an die kommenden Generationen“, in der Texte von unter anderen Mareike Fallwickl und Gabriele von Arnim erschienen sind.

De Velasco richtet den Text an ihre ungeborene Tochter Stella. Um diese Nuance wirklich nachvollziehen zu können, sollen Lesende zunächst mehr über de Velascos recht ungewöhnliche Lebensgeschichte erfahren – und wie diese zur Entscheidung führte, von einer Zukunft als biologische Mutter abzusehen.


„Seit der Pandemie kennen auch Männer
dieses bange Warten aus erster Hand,

vor einem Teststreifen hockend,
dass kein zweiter auftaucht.
(7)


„Liebe Stella“ wird mit der ersten Begegnung de Velascos mit ihrer Tochter eingeleitet: In Form eines Doppelstreifens auf einem Schwangerschaftstest wird die Autorin über die neue Mitreisende in Kenntnis gesetzt.

Doch ist ihr die Entscheidung schnell klar: Mutter zu werden fühlt sich so surreal an wie die „schmelzenden Uhren von Dalí, die da in meinem Uterus vor sich hin tickten“ (9). Es ist keine Zukunft, die de Velasco sich ausmalen möchte.

Schon in dieser Hinsicht stellt „Liebe Stella“ einen wichtigen textuelle Beitrag dar: dieser Text ist essenziell für aktuelle Diskurse von, mit und über kinderfreie Frauen.

Da de Velasco transparent und ungeschönt mit allen mit einer Abtreibung einhergehenden Gefühlen umgeht, das Procedere mit realistisch-humoristischer Perspektive schildert und ihre persönlichen Erlebnisse bei und nach der Abtreibung nahbar niederschreibt, ist der Text lehrreich, ohne abzuschrecken; menschlich, ohne polemisch zu werden; einfühlsam und charismatisch zugleich.


Das abgetriebene Mädchen schwebt auch weiterhin durch ihre Gedanken, sie stellt sich Stella als Kleinkind und Teenagerin vor – mit Wehmut, doch ohne Trauer. Inspiriert einen innigen Blick auf diejenige Generation, der Stella jetzt angehören würde.

Doch die thematische Vielfalt von „Liebe Stella“ wird direkt um zahlreiche weitere Perspektiven ergänzt – denn de Velasco führt uns mit geschmeidiger Feder weiter ein in das Davor und Danach ihrer Existenz als Nichtmutter.


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Wir tauchen ein in zwei biografische relevante Perspektiven: Einerseits de Velascos Jugend als Mitglied bei den Zeugen Jehovas und die Verwurzelung ihres Selbstbildes, von außen mehr oder weniger gewaltsam geprägt, als biologische Reproduktionsmaschine im Kontext ihrer religiösen, sozialen, geschlechtlichen Kulissen. Wie sie dieses Selbstbild rechtzeitig retten konnte und wie dies ihr jetziges Leben beeinträchtigt, erörtert de Velasco in einigen innigen Passagen.


„Die Lebensweise, die ich von klein auf gekannt hatte,
war komplett zerstört, aber ich hatte noch nicht gelernt,
meinen Platz in dieser neuen Welt zu finden.“
(29)


Mittig des schlanken Büchleins gelangen wir zum zukunftsorientierten Kern der Geschichte, denn „Liebe Stella“ handelt vorrangig davon, wie zukünftige Generationen mit einer endenden Erde umgehen sollten – und wirft einen vergleichenden Blick auf de Velascos eigene Generation mit den jungen, wütenden, aktiven Greta Thunbergs dieser Welt.

Von November 2019 bis Februar 2020 streikte de Velasco vor der Akademie der Künste in Berlin für eine gerechtere Klimapolitik. Daraus entstand der Gedanke, aus Schrott ein Wohnfahrrad zu bauen und damit durch die Republik zu fahren. Über die Schwierigkeiten, Zweifel und körperlichen Herausforderungen auf dieser Fahrt berichtet sie in mehreren Anekdoten, Episoden, Reflexionen und Betrachtungen darüber, ob solche Aktionen überhaupt irgendwelche Ergebnisse erzielen können; was für aktive Handlungsmethoden wir als Erdbewohnerinnen noch zur Verfügung haben – und wie aus Hoffnungslosigkeit Hoffnung werden kann.

Denn, so der Titel des Essays, möchte de Velasco radikal hoffnungsvoll leben und diesem Prinzip in allem, was sie tut, nachgehen. Ihren Weg zur radikalen Hoffnung schildert sie zu guter Letzt.

De Velasco taucht für den Gedankengang in kulturwissenschaftliche Sphären ein und greift den nordamerikanischen indigenen Stamm der Apsáalooke, auch Crow People genannt, als Beispiel auf. Sie schildert den Lebenswandel, das Zeit- und Raumgefühl und die Vertreibung der Crow von ihren Territorien – und den Umgang der Crow mit dieser versuchten Ausrottung.

Nämlich konnten die Crow über bestimmte Rituale in abgelegenen Orten inmitten der Natur transzendente Räume betreten und dort in träumerischen Zuständen zurück zu ihren kollektiven Erinnerungen finden – obwohl ihre gemeinsame Realität längst weitab dessen fortlief, was sie als Heimat oder Sicherheit oder Gemeinschaft kannten.

Weiße Eroberer haben die Länder und die Tiere, auf und mit denen die Crow gemeinsam lebten, an sich gerissen, ausgerottet und getötet. De Velasco kontrastiert die Rituale, die die Crow weiter ihre Kultur leben lassen, mit ihrem Glauben an eine Apokalypse bei den Zeugen Jehovas und findet den gemeinsamen Nenner im Wissen über die nahende Klimakatastrophe.


Wir müssen […] eine neue Lebensform finden.

Aber wie macht man das?
Und was braucht man dazu?(39)


So empfiehlt de Velasco beispielsweise das Schreiben, das mündliche Erzählen, das gemeinsame Trösten und Lachen als Methoden der radikalen Hoffnung – der radikal hoffnungsvollen Lebensart. Sie hebt die Kenntnis und das aktive Wissen um die eigene und die kollektive Sterblichkeit als Methode des Mutes hervor, den wir alle brauchen, um im Angesicht unserer schnell verbrennenden Erdkugel noch mit einem Lächeln im heißen Sonnenschein des neuen Sommers spazieren zu gehen.

Es gibt noch unendlich viele Anregungen, Referenzen und Verknüpfungen zu entdecken in diesem kurzen, doch dichten und klugen Brief. Diese möchte ich allerdings jedem Lesenden zum eigenen individuellen Vergnügen überlassen.

Stefanie de Velascos „Liebe Stella oder Radikal hoffnungsvoll in die Zukunft“ ist ein faszinierender Text, der unglaublich viele relevante Aspekte des Status quo des Anthropozän bündelt – und humoristisch, charismatisch, amüsant, feministisch und scharfsinnig dasjenige aufzeigt, wovon die Menschheit zweifelsohne immer größere Mengen brauchen wird: Radikale Hoffnung.

Meinerseits eine klare Leseempfehlung.

Bibliografie

Titel: Liebe Stella oder Radikal hoffnungsvoll in die Zukunft
Autor*in: Stefanie de Velasco

80 Seiten | 18,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 21.10.2024
Verlag: Kjona

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