Willkommen bei meiner ersten deutschsprachigen Essayreihe. In den Beiträgen dieser Reihe wird ein Vergleich zwischen neueren und älteren Romanen hergestellt, um darauf basierend die Hauptthematiken und ihre Substanz für die literarische und kulturelle Gegenwart zu untersuchen. Eure Gedanken zu den Büchern und zu dem von mir Geschriebenen sind in den Kommentaren herzlich willkommen. 🙂
Vor kurzem entdeckte ich im Rahmen eines Nobelpreisträger-Leseprojekts Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin (1983). Im letzten Jahr las ich Leïla Slimanis Roman Dann schlaf auch du (Chanson Douce, 2016), und dieses Jahr ihren als Zweitveröffentlichung bekannt gewordenen Erstling All das zu verlieren (engl. Adéle, fr. Dans le jardin d’ogre, 2014).
Klavierspielerin und All das zu verlieren sind zwei Romane, die inhaltlich, ideologisch und existentialistisch eng miteinander verbunden werden können, obwohl ihre Autorinnen einander nicht kennen und zwischen den Veröffentlichungen knapp 30 Jahre vergangen sind.
Grenzenlose Freiheit im eigenen Körper erfahren, vollständige Kontrolle nach außen beibehalten. Der Anfang einer inneren Revolution, die zur hemmungslosen Realisierung radikaler Fantasien und einer erfüllten Existenz führen soll – diese Perspektiven und Dialogfelder für neue Generationen zu öffnen war ein Anspruch, anhand dessen Leila Slimani und Elfriede Jelinek als Pioniere der feministischen Literatur bezeichnet werden können. Dennoch scheitern ihre Protagonistinnen.
Adéle führt nach außen hin eine glückliche Ehe mit Vorzeigeehemann und Vorzeigekind. Sie hat alles, was man sich mit Mitte dreißig wünschen könnte: eine erfolgreiche Karriere in einem stimulierenden und dynamischen Berufsfeld, eine ästhetisch und konventionell vorbildliche Familienkonstruktion. Dennoch unterliegt sie dem Zwang, regelmäßig nach vollständigem Kontrollverlust suchen zu müssen. Was sie nicht bemerkt, ist nicht die Tatsache, dass in den Momenten dieses Kontrollverlusts die einzigen wahren Glücksmomente ihres Lebens zu finden sind, sondern dass sie unfähig ist, beide Elemente miteinander zu vereinen, und dass diese Möglichkeit überhaupt besteht.
„Sie will, dass man sie packt, dass ihr Kopf gegen die Scheibe prallt. Sobald sie die Augen schließt, hört sie die Geräusche: das Stöhnen, das Klatschen der Körper. Ein nackter, keuchender Mann, eine Frau, die kommt. Sie will nur das Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlungen werden.“
Erika Kohut ist Klavierspielerin und lehrt am Wiener Konservatorium. Ebenso ist sie nach außen ein Sinnbild der Perfektion in einer Welt der klassischen Musik, wo selbstredend alles einem perfektionistischen Ideal der musikalischen Vorbilder unterliegt – ohne Interpretationsfreiheit. Und doch sucht Erika sich von der Kontrolle ihrer Mutter zu befreien, indem sie nach erotischen Begegnungen, Körperkontakt mit Fremden, und der Verwirklichung von sadomasochistischen Fantasien sucht.
Erstens stellt sich die Frage, wer die eigentliche Kontrollinstanz im Roman ist und wen sie eigentlich kontrolliert – denn in beiden Fällen findet ein misslungener Versuch der Befreiung aus dem Käfig der Realität in Form einer radikal unkonventionellen sexuellen Tabuverletzung statt.
Ein gemeinsames Ziel der weiblichen Protagonisten ist die Verfolgung der Illusion des Glücks, die wiederum zu einer klassisch-realistischen Pflicht-und-Neigung-Juxtaposition führt. Nichts neues in dieser Gegenüberstellung, was bereits in Effi Briest nicht zu lesen war… dennoch sind die körperlich motivierten Szenen der Selbstverletzung, des Voyeurismus, der Gruppenaktivitäten und Erniedrigung als Kontrast der ebenso ersuchten traditionellen Stabilität im Familienheim zu vergleichen.
Wo ist nun die eigentliche Perversion? Sie scheint sich in beiden Fällen in dem alltäglichen, routinierten Element der Biografien zu befinden, da dieses die Figuren dauernd unterdrückt und sie schließlich zur totalen Eskalation zwingt.
“Der Herdeninstinkt schätzt ja überhaupt das Mittlere hoch ein. Er preist es als wertvoll. Sie glauben, sie seien stark, weil sie die Mehrheit bilden. In der mittleren Schicht gibt es keinen Schrecken, keine Furcht. Aneinanderdrängen sie sich um der Illusion von Wärme willen. Mit nichts ist man im Mittleren allein, mit sich selbst schon gar nicht.”
Grundsätzlich versuchen beide Protagonistinnen sich in ihrer Wunschwelt zurechtzufinden und ausschließlich ihren Instinkten die Kontrolle über ihren Körper zu verleihen, um die stark vom praktisch-pragmatischen Verstand beherrschte Existenz vollständig zu vernichten. Da wäre eine radikale Transparenz nach außen wesentlich produktiver, wenn es um die emotionale Erfüllung und einen möglichen Neuanfang geht.
Insofern scheitert an dieser Stelle die feministische Revolution aufgrund ihrer Isolation und einem fehlenden pragmatischen Element. Würde sich eine breitere Toleranz für eine Freiheit hinsichtlich des Sexuellen und des Emotionalen entwickeln, würde die allgemeine Befürwortung außergewöhnlicher Individualitätsmuster auch in der grauen Familienhaustapete existieren, könnten diese Frauen in ihrer Selbstentfaltung aufgehen, und nicht an der Qual ihrer Schattenexistenz nur Leiden erfahren, um diese schließlich vollständig aufgeben zu müssen.
Schließlich sind solcherlei Romane wichtig und notwendig für eine weiterführende Emanzipation nicht nur der femininen Freiheit, sondern einer intensiven Individualisierung. Illusionen von Freiheit müssen in unserer Zeit zur Realität werden. Für einen fundamentalen und stilistisch meisterhaft ausgeführten Beitrag in diese Richtung verbeuge ich mich vor beiden Autorinnen.
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