Was bleibt in 2020? Nachdenken über Christa W.

Christa Wolf – für meine Generation schon fast ein in die Vergangenheit weichender Name. Ein Schlaglicht der DDR-Literatur, die „Grand Dame der DDR-Literatur“ (MDR) scheint nach der Wiedervereinigung Deutschlands in Vergessenheit geraten zu sein. Sie wird  erwähnt und zu bestimmten Jahrestagen gepriesen, doch nicht mehr aktiv gelesen.

Für meine Professoren im Literaturstudium galt Wolf trotzdem als ein literarischer Koloss, ihre Erzählungen und Romane nicht gelesen zu haben als faux pas schlechthin.

 

Die tragende Rolle Christa Wolfs auf der politischen und literarischen Landschaft einer vergangenen Zeit steht unumstritten fest. Nun heißt es jedoch, wie Wolf bereits selber in den 1970er-Jahren formulierte: „Was bleibt?'“*

50 Jahre später möchte ich die Ideen und Geschichten der Autorin anhand von Wolfs Memoirroman Nachdenken über Christa T. aus einer aktuellen Perspektive unter die Lupe nehmen und recherchieren, ob und inwiefern das nachdenken über Christa W. auch in 2020 fruchtbar ist.

 

Nachdenken über Christa T. erschien nach einer ausführlichen Redaktion und Reduktion durch Zensur, weshalb vieles in dem Kurzroman (oder ist es eine Erzählung?) nur angedeutet wird, selten konkrete Orte oder Daten genannt werden, und der Erzählton sentimental bis vorwurfsvoll erscheint.

Der Roman liest sich wie ein gefühlvoller Nachruf für eine gute Freundin, was die Erzählerin auch zu sein scheint. Er beginnt mit dem Kennenlernen der Christa T. in der Schulzeit und endet nach ihrem Tod, wobei die Innenperspektive der Heldin anhand von Christas eigenen Aufzeichnungen, die ihr überlebender Ehemann der Erzählerin gegeben habe, ebenso preisgeben wird. Die Erzählerin reflektiert nicht nur über ihr Subjekt, sondern über ihre eigene Rolle innerhalb der Narrative, was dem ganzen eine neue reflexive Dimension erteilt:

 „Ich begreife das Geheimnis der dritten Person, die dabei ist, ohne greifbar zu sein, und die, wenn die Umstände ihr günstig sind, mehr Wirklichkeit auf sich ziehen kann als die erste: ich.“ (Nachdenken über Christa T.)

 

Der Roman schildert jedoch hauptsächlich den „Konflikt zwischen der historischen Entwicklung der Gesellschaft und den individuellen Ansprüchen der Protagonistin“ (LeMo). Ein zeitloses Universalthema, noch nicht einmal vom Geschlecht der Hauptfigur abhängig: den eigenen Platz in der Gesellschaft finden und individuelle Ziele mit denjenigen abzuklingen, was die Familie, die Eltern, das Umfeld von einer Person erwarten.

2020-02-27 Nachdenken M03518459139-largeGerade dieser vage Stil der Erinnerungsbeschreibungen lässt den heutigen Leser seinen eigenen Kontext kreieren: Wer daraus die Regimekritik lesen möchte, sieht diese klar und deutlich. Doch kann jemand, dem es um reine Emanzipation und Meinungsfreiheit des weiblichen Individuums im Bezug zum eigenen Körper geht, genauso viel Reflexionsbasis darin finden.

 

Eher ist der Roman eine Sammlung von Eindrücken als eine kohärente Erzählung. Über das Weibchensein, Frausein, Muttersein und über die Notwendigkeit solcher Entscheidungen zwecks des Überlebens wird reflektiert, sowohl am Beispiel Christas als auch – flüchtig – anderer auftretender Figuren. Ein allgemeiner Realitätsanspruch wird erhoben und an Tabuthemen gerüttelt, indem über Gewalt an Frauen und diesbezügliche alltägliche Zwänge berichtet wird. Aspekte, die gleichzeitig als Sozialkritik und DDR-Kritik interpretiert werden kann, gelten als Werkzeug für einen Dialog im Sinne der Selbstfindung für jeden emanzipatorischen Kontext.

 

Vielleicht ist Nachdenken über Christa T. gerade deswegen der Starterroman für jemanden, der sich neu an Christa Wolf heranwagen möchte. Ohne Baggage und Ehrfurcht an dem, was war.

Denn auch so darf gelesen werden.

 

Zum Schluss noch ein sehr makaberes Beispiel aus dem Erzählband zum Vergleich:

Sie standen wieder da. Es war neun Uhr fünf. Seit drei Minuten standen sie wieder da, ich hatte es sofort gemerkt. Ich hatte einen Ruck gespürt, den Ausschlag eines Zeigers in mir, der nachzitterte. Ein Blick, beinahe überflüssig, bestätigte es. Die Farbe des Autos war heute ein gedecktes Grün, seine Besatzung bestand aus drei jungen Herren.“ (Was bleibt)

Die Autorin beschreibt sehr konkrete Gefühle des sehr konkreten Beobachtetseins, die man jedoch neuerdings auf einer abstrakteren Basis beginnt, erneut zu verspüren – potentielles Einführen von automatisierter Gesichtserkennung auf dem eigenen Universitätscampus und im öffentlichen Verkehr sind einige der in die Privatsphäre eindringenden Elemente, die eher Gefühle der Bedrohung als Sicherheit einflößen. Dann noch die akute Gefahr, dauerhaft und unwissend vom eigenen Smartphone gefilmt und aufgenommen zu werden? Legitime Gründe dafür, das eigene Haus nicht mehr zu Verlassen.

 

Wolf lässt sich in ihrem Existenzraum von ganz konkreten Beobachtern vergleichsweise nicht einschüchtern, obwohl sie dem Staatsapparat viel eher ausgeliefert ist als ein Individuum des 21. Jahrhunderts. Sicherlich ein starkes Vorbild für die feigherzigen Individuen unter uns.**

 

Christa Wolfs Werk überlebt ihren zeitlichen Kontext, ihren politischen Rahmen und ihre Umstände. Wolfs gesellschaftskritischen Ausführungen zur Rolle der Frau, zu der vernichtenden Natur von absoluten Machtstrukturen und der Fatalität von kultureller und sozialer Konventionalität und Repressionen auf das individualistische Europa sind wertvolle Allgemeinplätze, die zu besuchen und zu erinnern es nicht nur in bestimmten Jahresabständen gilt.

 

 

* Erzählband. Verfasst in 1979, veröffentlicht in 1990. (MDR Kultur)

** Man mag mir als Anonymus vorwerfen, nicht auf deutsch-deutsche Perspektiven und historische Nuancen sensibilisiert zu sein, da ich meine eigene Kindheit in Osteuropa verbracht habe und die Institution Sowjetunion nur eine rudimentäre, überlieferte Erinnerung aus meiner frühesten Kindheit ausmacht. Doch ist nicht gerade im heutigen Deutschland die Perspektive einer halb fremden, halb eingebürgerten die relevanteste und die objektiv nachvollziehbarste von allen?

 

Eure Meinungen zum Thema sind in den Kommentaren gerne gesehen.

 

 

MDR Kultur. Christa Wolf: Was bleibt

Haus der Geschichte. Lebendiges Museum Online: Christa Wolf

Tagesspiegel. Gesichtserkennung: Das Ende der Anonymität?

Stern. Lauschangriff auf dem Smartphone

 

(Fotos: 1 2)



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1 Antwort

  1. Ja, hier im Osten Deutschlands war sie ein MUSS.

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