Die südkoreanisch-amerikanische Autorin und Anwältin Min Jin Lee (* 1968) ist vor allem für ihren Weltbestseller „Ein einfaches Leben“ (Pachinko, 2017) bekannt, in dem es ums Leben als koreanische Einwanderer in Japan und die Spielhallen der kriminellen Unterwelt der Yakuza geht.
Im Roman „Gratisessen für Millionäre“ schreibt Lee über den amerikanischen Traum, die knallharte Konkurrenz der New Yorker Unternehmenswelt – und die schicksalhaften Konflikte, die beim Zusammenprall östlicher und westlicher Wertevorstellungen entstehen.
Warum verharre ich nach dieser vielschichtigen Lektüre noch mehr in Erwartung eines dritten Textes von der Autorin – und wieso überzeugt dieser Roman dennoch nur in Teilen?

Min Jin Lee studierte in Yale und arbeitete vor der Veröffentlichung ihres ersten Romans als Anwältin in New York.
Lee verabschiedete sich von ihrem Beruf im Rechtswesen im Jahr 1995, nachdem eine chronische Leberkrankheit ihrer von geleisteten Überstunden bedingten Dauererschöpfung die Krone aufsetzte.
Die Autorin hatte bereits im Gymnasialalter Kurzgeschichten in einer südkoreanischen Zeitung veröffentlicht und während ihres Studiums in Yale Preise für ihre Texte gewonnen, jedoch nie versucht, sich als Schriftstellerin zu behaupten.
Lee sei nach eigenen Worten einfach nie auf die Idee gekommen, da es zu der Zeit keine Vorbilder mit einem ähnlichen Hintergrund gab. (1)
Nun dient sie allerdings mit eigenem literarischen Erfolg sowie aus der Biografie bekannter menschlicher Resilienz als mächtiges Vorbild, da ihre Romane eine weltweite Beliebtheit genießen.
Min Jin Lees Debütroman „Gratisessen für Millionäre“ (Free Food for Millionaires) erschien ursprünglich 2007 und wurde aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer ins Deutsche übersetzt. Der Roman verfolgt die junge Casey Han, Tochter koreanischer Einwanderer, die versucht, sich in der Welt der reichen und erfolgreichen New Yorker zu behaupten und einzublenden.
Trotz erfolgreichem Studium und erster Erfolge auf der Karrierelaufbahn hat Casey noch keine richtige Idee oder Vorstellung der genauen Schritte zum Erfolg – muss allerdings (aus eigener Sicht) dennoch ständig mithalten, um eine Person zu projizieren, die ihr Leben erfolgreich zusammen hält.
Caseys Eltern tragen stark zu ihrer Identitätskrise bei:
„Das Leid ihres Vaters war Casey nicht gleichgültig.
Sie hatte jedoch entschieden, dass sie nichts mehr
davon hören wollte. Seine Verluste waren nicht die ihren,
und sie wollte sie nicht länger mittragen.
Sie befand sich in Queens, und zwar im Jahr 1993.
Am Tisch schrieb man jedoch das Jahr 1953,
und der Koreakrieg wollte kein Ende nehmen.“(21)
Trotz der Opfer und Mühen ihrer Eltern gelingt es Casey nicht, den steilen Pfad zum Erfolg zu erklimmen – immer mehr gerät die Frau zwischen die Zahnräder ihrer eigenen Orientierungslosigkeit, während sie nach ihrem Platz in einer von Dichotomie und Opposition getragenen Gemeinde sucht.
Der Versuch, sie selbst zu sein – und vor allem der Mut, den Vorstellungen ihres strengen Vaters zu widersprechen –, führen zu einer Entfremdung von der Familie.
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Min Jin Lee, die selbst als Anwältin aktiv im Unternehmensmilieu New Yorks tätig war, schildert den korporativen Mikrokosmos und die Mentalität der Boys Clubs mit Sorgfalt und Feinfühligkeit: auch ihre unsympathischen Figuren erhalten je eine Vielseitigkeit und Ambivalenz, die den Gesamteindruck interessant macht.
Klar, Broker und Bänker sind harte Kerle und halten nicht viel von Menschen, die nicht in ihrer Welt und mit ihrem Tempo zurechtkommen – doch da Casey eine gutaussehende, intelligente und hart arbeitende Person ist, wird sie ohne Komplikationen in die „Brüderschaft“ aufgenommen.
„Es war zwei Uhr morgens, sie befand sich immer noch
im Büro und wartete darauf, dass Xerox kooperierte.
Wäre sie nicht so müde gewesen, hätte sie es lustig gefunden,
dass ein Kopierer automatisch die Chance bekam,
sich auszuruhen, die Praktikanten hingegen nicht.“(795)
Einerseits öffnet Lee in „Gratisessen für Millionäre“ ein wirklich reichhaltiges und interessantes Panorama an koreanisch-amerikanischen Beziehungen, Vorurteilen, Klischees, Typen und Brüchen dieser Typen. Sie zeigt ganze Familien, ältere und jüngere Generationen, durchleuchtet Ideologien und schmückt diese mit Kleinigkeiten aus, um ihrer sehr üppigen Figurenwelt einen durchgehenden Tiefgang zu verleihen.
Die Protagonistin ist offensichtlich stark nach Lee selbst modelliert, weswegen sie als Figur bei Weitem am interessantesten ist und bleibt. Die Ambivalenz ihres Charakters und ihre oft diskutablen Entscheidungen machen sie menschlich.
Ebenso ist es faszinierend, die Mischung aus ihrem stark indoktriniertem Koreanertum und amerikanischen Normen zu beobachten. Sicherlich ist in dieser Hinsicht gar nicht alles für einen westlich sensibilisierten Lesenden sichtbar, doch beispielsweise Caseys irritierte Enttäuschung über die faux pas ihres Verlobten in puncto Knigge bezüglich ihrer Eltern stehen im starken Kontrast zu ihrer Ambition zur Selbstständigkeit im Leben und Parität im Beruf.
Ihre wachsenden Kreditkartenschulden? Äußerst amerikanisch.
„In der Umhängetasche […] befanden sich ihre Bücher:
Ausgaben von Middlemarch und Sturmhöhe, […]
die Konfirmationsbibel […] und ein 99-Cent-Notizbuch,
in das sie ihren Vers des Tages schrieb.“(53)
Dass Religion ein so zentraler Themenkomplex sein wird, kam für mich eher unerwartet auf, ist jedoch insgesamt ein faszinierender Aspekt des gesellschaftlichen Panoramas und auf den zweiten Blick eine potenzielle Gemeinsamkeit mit der doch recht christlich geneigten US-amerikanischen Bevölkerung – obwohl New York als multikulturelle Metropole in dieser Hinsicht argumentativ durchwachsen sein müsste.
Nicht nur Caseys Eltern oder die sehr behütete Freundin Ella setzen sich täglich mit der Bibel auseinander, sondern auch die Protagonistin selbst. So willkürlich dies in Teilen erschienen mag, spiegelt es offensichtlich die Realität vieler Koreaner*innen.
Lees eigene literarische Haupteinflüsse seien unter anderen George Eliots „Middlemarch“ und die Bibel gewesen – sofern ist es ebenso kein Wunder, dass diese in ihrem Debütroman eine prominente Rolle spielen. (2)
Im Allgemeinen stellt Min Jin Lee in diesem Roman eine Menge relevanter Fragen, zeigt enorm viele Modelle und Probleme, Konflikte und Diskrepanzen der koreanisch-amerikanischen Identität, entsprechender Beziehungen, Konflikten und Krisen auf. Diese Vielfalt an spannenden Figuren werden jedoch immer nur als kleine Häppchen an einem riesigen Buffet ausgelegt – eine Entscheidung, die meines Erachtens stark und negativ auffällt.
Auch wenn enthusiastische Lesende an dieser Stelle hervorheben würden, dass dank der Vielschichtigkeit eine größere Menge an zwischenmenschlichen Nuancen und gesellschaftlichen Feinheiten zur Geltung kommt – persönlich vermisste ich den figurenpsychologischen Tiefgang und konnte der oberflächlichen Darstellung von zig Personen wenig abgewinnen.
Vieles macht Appetit, doch nichts sättigt zum Schluss.
So interessant „Gratisessen für Millionäre“ im ersten Drittel also auch ist, so facettenreich die Protagonistin geschrieben wurde, fallen die ständig dazukommenden neuen Figuren mehrwerdend nur mit ihrer Quantität ins Auge.
Irgendwann führt diese Masse an Ansätzen lediglich dazu, dass die hauptsächlichen Entwicklungen nur halbwegs abgeschlossen werden – und zu viele sowieso schon nebensächliche Handlungslinien auf der Strecke bleiben.
Stark bewunderte ich die Kraft und Wucht, die filigrane Exzellenz von „Pachinko“ – eine literarische Delikatesse, die wunschlos satt macht. In diesem Roman machten sich auch die frühen Ambitionen der Autorin, Architektin zu werden, ganz klar erkennbar. (1)
Umso mehr enttäuscht hat mich nun der Debütroman von Min Jin Lee, der lediglich Häppchen zur Verfügung stellt und sich auch mit Mühen nicht als Mahlzeit verzehren lässt. Auch denjenigen, die „Pachinko“ noch nicht gelesen haben, werden diese Schwächen sicherlich auffallen. Obwohl ich den Roman ausgelesen habe, hat eine Lektüre von 850 Seiten meines Erachtens nicht lauwarm, sondern hervorragend zu sein. In diesem Kontext kann ich nur nochmal die herausragende Arbeit an „Pachinko“ loben.
Parallel sehe ich nun also weiterhin einer möglichen neueren Übersetzung und/oder Veröffentlichung von Min Jin Lee mehr als entgegen – spreche für „Gratisessen für Millionäre“ jedoch keine Leseempfehlung aus.
Kennst Du die Autorin bereits, und wie haben Dir ihre Bücher gefallen? Ich freue mich, von Dir zu lesen.
Hier geht’s zur Leseprobe.
1 – Interview im Harvard Gazette (Artikel, EN)
2 – Interview im Queens Public Library (Video, EN)
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Bibliografie:
Titel: Gratisessen für Millionäre
Originaltitel: Free Food for Millionaires
Autor*in: Min Jin Lee
Übs.*in: Andrea Fischer
848 Seiten | 28,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 18.05.2023
Verlag: dtv
ISBN: 978-3-423-28331-1
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