Blut im Schnee. Vigdis Hjorth: „Die Wahrheiten meiner Mutter“

Vigdis Hjorth erzählt in ihrem Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ eine ungemütliche, komplexe, in Teilen verstörende Geschichte darüber, wie tiefe Wunden Mütter und Töchter einander zufügen können. Doch tut sie dies auf eine so mitreißende Art und Weise, dass es fast unmöglich ist, das Buch im Laufe der Lektüre aus der Hand zu legen.

Während der Roman immer schwerer und schwerer zu verkraften wird, erfahren Lesende die fesselnden Wahrheiten einer ebenso ambivalenten Mutterfigur wie auch der Tochterprotagonistin.


© S. Fischer

Vigdis Hjorth erhielt bereits für ihre erste Veröffentlichung im Jahr 1983 den Debütpreis des Norsk kulturråd.

Hjorth ist vielfache Bestsellerautorin und eine der meistrezipierten Gegenwartsautorinnen Norwegens. Sie war bis dato für den Literaturpreis des Nordischen Rates, den National Book Award sowie den International Booker Prize nominiert.

Hjorths Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“, aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs, ist die komplexe Geschichte einer entfremdeten Familie, ein Panorama weiblicher und menschlicher Wunden, ein Versuch der Versöhnung unter argumentativ drastischen Bedingungen.

Hjorth zieht bereits im Anklang ihrer Geschichte extrem gekonnte erzählerische Spannungsbögen auf, die sie im Laufe des Textes nach und nach verbiegt, um immer tiefere Risse sichtbar werden zu lassen.


Bereits im Auftakt erhalten Lesende Einblicke einer angespannten Mutter-Tochter-Beziehung, die mit dem Ausbruch der Tochter aus dem Schoß der Familie vollständig gekappt wird.

Wie krass respektive Interpretationen des Geschehenen allerdings divergieren, kommt im Laufe des Romans nach und nach ans Licht. Die Ambivalenz der Figuren wird zunehmend intensiver – während die Erzählerin keineswegs an Zuverlässigkeit verliert.



Vielleicht erfinde ich das.

Aber ich erinnere mich an meine Atemschwierigkeiten,
[…] immer dann, wenn sich die Familie öffentlich zeigte,
ich hatte dann das Gefühl, dass mir ein Drehbuch in die Hände gedrückt worden war […].

Die brave Anwaltstochter, die Anwaltsgattin, die Jurastudentin,
das Unbehagen dabei […].“(26)


Johanna weiß, dass sie keine gute Tochter ist. Aber was macht eine gute Tochter aus – und eine gute Mutter?

Wer hat wen in welchen Lebensmomenten vor welcherlei Schlägen zu schützen?

So viele Hürden haben Johanna und ihre Mutter im Leben überwinden müssen – zahlreiche emotionale Tiefpunkte überstanden, über die sie sich eigentlich auf Augenhöhe austauschen könnten. Dass argumentativ die Entscheidungen der Mutter die Tochter überhaupt auf bestimmte Kreuzungen getrieben haben, die zum Tod der Beziehung führten, steht eigentlich außer Zweifel.

Doch vor welchen Herausforderungen stand Johannas Mutter, welche Opfer musste sie selbst bringen?

Nachdem die Protagonistin vor dreißig Jahren mit ihrem Ehemann in die USA ausgewandert und einer erfolgreichen Künstlerinnenkarriere nachgegangen ist, kehrt sie nun für eine Retrospektive ihrer Gemälde in ihre Heimatstadt zurück – und möchte diese Rückkehr mit einer Versöhnung, einem Frieden, zumindest einer Aussprache vereinen.

Die ihre Mutter vehement verweigert.

Warum?

Es gibt enorm viele Wege, diese Frage zu beantworten – Wege, die Hjorth mit Bedacht und Vorsicht betritt.


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Dass die Geschichte aus der Tochterperspektive authentisch geschrieben ist, die Mutter und die Familie zunächst als Antagonisten, die von Konventionen getragene konservativ-traditionalistische Familie als Institution der Unterdrückung von allen Formen des Individualismus gelten, steht vollständig außer Frage – und wird keineswegs in Frage gestellt.

Johanna hat sich aus einem komplexen toxischen Verhältnis befreien müssen, um ihr Glück zu suchen, zu erkämpfen und zu genießen.

Und doch gibt es so viel Dunkelfläche in ihrer Jugend, ihrer Kindheit, ihrem Bild von ihrer Mutter als junge Frau, als alternde Frau, als Mutter für ihre Schwester Ruth – als Ehefrau, die denselben Pfad brav und tapfer angetreten ist, den Johanna selber subversiv und tapfer verlassen hat.

Auch Johannas Mutter ist Anwaltsgattin gewesen.


Ich gehe hinaus und lege mich ins Gras, […]
ich […] spüre,
wie mich die schwere Nässe der Erde zu sich zieht,
und mir wird klar,
dass wir uns nicht dem Himmel zukehren sollten,
sondern dem, was unter uns ist.“(86)


Wie dieser Roman in seiner vollen Last zu lesen und zu ertragen ist? Zwei Perspektiven mit enormer emotionaler Wucht öffnen sich nach und nach – die Intensität der Lektüre wird graduell erhöht. Vigdis Hjorth hat für ein erzählerisches Gleichgewicht gesorgt, indem sie sich ebendem zugewandt hat, was Ruhe und Stille ausatmet, sich um uns lautlos bewegt und für das seelische Gleichgewicht der Protagonistin sorgt.

Die karge, kühle norwegische Natur erlaubt es Johanna, sich nach dem Stalken ihrer Mutter immer wieder in ihrer Waldhütte zu erden, die hochgefahrenen Emotionen vor dem Kamin abzuleiten – einen Elch beim Abwetzen seines Geweihs zu betrachten, während dieser sie beim gleichen Procedere begleitet.

Auf eine minimal magische Manier – denn an keiner Stelle knüpft Hjorth am magischen Realismus an, ihre Erzählung bewegt sich in der nüchternen Gefühlswelt realer Wesen – horcht Johanna in den schneebedeckten Wald hinein und führt eine wortlose Kommunikation mit dem regelmäßig bei ihrer Hütte vorbeispazierenden Elch.

Inmitten dieses stillen, leeren Raumes lässt die Protagonistin ihre Gedanken über die Erkenntnisse, die Reflexionen und die Fakten sowie Spekulationen zur Vergangenheit Revue passieren.

Auch wenn Vigdis Hjorth ihren Text kompositorisch gekonnt konstruiert hat – Exposition, Komplikation und Klimax sind meines Erachtens perfekt getaktet –, wohnt dem gesamten Buch eine Reife, eine Ruhe inne, die etwa an Erzähler*innen wie Bernhard Schlink oder Olga Tokarczuk erinnert: Autor*innen, deren eine enorme Tiefe und eine immense Vielschichtigkeit eigen sind.

Zeitgleich ist die analytische Schärfe der beleuchteten Themen mit vielerlei Verknüpfungen versehen, die dem bereits hochgradig anspruchsvollen Werk seinen entscheidenden Schliff geben und die Geschichte in eine Sphäre psychologischer Komplexität erheben, die weit über dem Rahmen der Handlung hinausreflektiert schwebt.

Zwei ausschlaggebende Ereignisse haben Johannas Mutter zum Beenden der Beziehung geführt, eines davon das öffentliche Ausstellen von Johannas Werken.

Ob diese Reaktion objektiv gerechtfertigt ist? Zu argumentieren wäre in beide Richtungen.


Darf eine Künstlerin ihre Werke nicht
mit Wörtern wie Kind, Mutter, Vater, Familie benennen,
weil ihre tatsächliche Mutter, ihr Vater, ihre Familie
die Werke dann für Abbildungen ihrer selbst halten?(306)


Analyse und Empathie, Neugier und – ja, ein gewisser Wahn nach der Wahrheit, der argumentativ als etwas ungesund zu bezeichnen wäre –, zeichnen die Figur Johannas aus. Sie möchte den Erinnerungen, den Geschichten und dem Verborgenen auf den Grund gehen, und schafft es trotz erschütternder Bestätigungen zu vielen Befürchtungen und heftigen emotionalen Schlägen dennoch, ihre eigene Identität und Vergangenheit um den Boden zu ergänzen, der ihr lebenslang fehlte.


Dass Johanna die emotionale Intelligenz, den intellektuellen Scharfsinn und die Fähigkeit, beide dieser Gaben zu kombinieren, besitzt, positioniert sie allerdings keineswegs auf das Podest der perfekten Heldin: auch sie ist menschlich, und muss dies stets anerkennen.

Eine finale Herausforderung bei der Konfrontation mit sich selbst, die für den Ausklang des Romans und Johannas Schicksal zum entscheidenden Punkt wird.

Aus so vielen Gründen ist Vigdis Hjorths Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ ein einzigartiges, ungewöhnliches, entsetzliches, schwermütiges und schwieriges, belastendes Buch. Wer allerdings keine Scheu vor literarisch hartem Tobak hat und sich den tiefsten Winkeln und Schluchten der eigenen Familiengeschichte und individueller Menschlichkeit gerne stellen möchte, wird in diesem hervorragenden Roman eine prächtige Anlaufstelle finden.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Die Wahrheiten meiner Mutter
Originaltitel: Er mor død
Autor*in: Vigdis Hjorth
Übs.*in: Gabriele Haefs

400 Seiten | 24,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 27.09.2023
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397512-3

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