Kate Listers charismatische Monografie „Sex. Die ganze Geschichte“ beschäftigt sich mit so ziemlich jeder Facette und jedem Blickwinkel, aus dem historische Phänomene rund um den Themenkomplex menschliche Sexualität angesprochen und durchleuchtet werden können. Es entsteht ein üppiges und progressives, kurioses und unterhaltsames Panorama; ein wilder literarischer Ritt, welcher jederlei Lesenden sowohl geistig bereichern – als auch mehrmals zum lauthals Lachen bewegen wird.
Dr. Kate Lister ist Historikerin, Dozentin und Kolumnistin für unter anderem iNews und Vice. Dazu kuratiert Lister das Online-Forschungsprojekt Whores of Yore und ist Vorstandsmitglied des International Sex Work Research Hub. Im Jahr 2017 gewann sie den Sexual Freedom Award als „Publicist of the Year“.
Kate Listers Monografie „Sex. Die ganze Geschichte“, aus dem Englischen übersetzt von Nina Lieke, umfasst gefühlt sämtliche Themengebiete, die mit Sex verbunden sind. So ist das gesamte Buch entsprechend in Kapitel strukturiert, die entsprechende Titel „Sex und …“ tragen: Worte, Vulven, Penisse, Essen, Maschinen, Hygiene, Fortpflanzung und Geld. Passend zum Konzept wurden die Kapitel um ein Vor- sowie Nachspiel ergänzt.
„Denn wie sollen wir schließlich an unserer Sexualität […]
Freude haben, ganz ohne Scham, wenn genau die Wörter,
die wir benutzen, um darüber zu sprechen, […]
als schmutzig angesehen werden?„(40)
Die Übersetzung aus dem Englischen von Nina Lieke ist hervorragend, sie überträgt Listers Humor im stilistischen und im inhaltlichen Sinne treffend, fängt das Charisma von Text und Autorin ein – und trifft die richtigen Entscheidungen an Stellen, die im Originallaut überliefert werden sollten. So bleibt das Buch auch im deutschsprachigen angenehm lesbar, witzig, bissig und faszinierend.
Zunächst erörtert Lister einen etymologischen Begriffskatalog und geht dem historischen Ursprung von Wörtern wie Hure, Vulva, cunt oder Klitoris auf den Grund. Bereits an dieser Stelle fallen der weitreichende Umgang mit historischen Perspektiven und eine beeindruckende räumliche Diversität der berücksichtigen Informationen und Quellen auf.
Dies in Kombination mit einem köstlichen Humor – Listers Text lehrt, unterhält und geht in einem unapologetischen, souveränen doch lockeren Ton mit seinen Lesenden um.
Als die Autorin beispielsweise an einer Textstelle darüber sinniert, wie die historischen Belege aus Ägypten eher spärlich sind und somit reichlich Spekulationsboden überlassen, scherzt sie zunächst hemmungslos über den uneindeutigen Umgang mit der Klitoris im Alten Ägypten – um dann in eine ausufernden und faszinierenden Fußnote vier weiterführende Quellen und diverse Hinweise auf Expert*innen zu geben, die ihr bei den Recherchen zum Buch zur Seite gestanden haben.
Auf diesen Wegen kannst Du meine unabhängige Stimme unterstützen:
Literarische Kaffeekasse PayPal
Bestellung bei genialokal.de * | rebuy * | Thalia * | bücher.de *
Abo bei Süddeutsche Zeitung * | Studentenpresse *
Abo auf meinem YouTube-Kanal
Vielen Dank für Deinen Support!
Argumentativ könnte mensch Listers Humor für etwas grob geschnitten halten – doch meines Erachtens helfen lustige Passagen und ein in Teilen unterstützend und freundlich dargestelltes nervöses Lächeln durch prekäre Begebenheiten zu gleiten, wie zum Beispiel weibliche Genitalverstümmelung – eine grausame Praxis, die auch in europäischen Territorien nicht fremd ist.
Zart besaitete Lesende werden bereits am ‚Vorspiel‘, welches mit Marquis de Sade einleitet, merken, dass es sich bei dem Buch nicht um eine wissenschaftliche Publikation mit sachlich-seriösem Ton handelt – doch gerade dies ist zu begrüßen.
Kate Listers Monografie ist ein Lesebuch für jedermensch und kommt mit einer enormen informativen Wucht daher, sodass diese durchaus mit witzigen Anekdoten und einer üppigen Prise Sarkasmus gewürzt und verfeinert werden dürfen, um Lesenden die Materialmenge und -fülle schmackhaft zu machen.
So erörtert und mahnt die Autorin selbst im Vorspiel zum Sachbuch:
„Was anstößige Sprache angeht, betretet ihr nun
vermintes Gelände. Hier werden historische
Einstellungen zu Sex und Geschlecht offengelegt.“(13)
Was diese Vorwarnung an Aspekten verdeutlichen soll? Einerseits gilt der für zeitgenössische Verhältnisse gender-ungerechte Ausdruck, da historische Quellen authentisch zitiert werden. Zweitens werden Zeugenberichte, Briefe, Artikel und diverse andere Texte ebenso im Wortlaut wiedergegeben, um sprachlichen Lokalkolorit in all ihrer vulgären Pracht zu übermitteln – insofern ist nicht nur in puncto sprachlicher Bagage der Autorin selbst, sondern in den angewandten, zitierten und paraphrasierten Formulierungen mit groben, moralisch ambivalenten, in sehr großen Teilen unterhalb der Gürtellinie verweilenden Ausdrücken und Passagen zu rechnen.
Was uns eigentlich als vollkommen natürlich erscheinen sollte, zumal der sachliche, aufgeklärte und schamfreie Umgang mit Sex als etwas sehr neues und progressives begrüßt wird.
Begleitet werden die kulturhistorischen Auslegungen von einer reichlichen Auswahl an Illustrationen aus Lehrbüchern, zeitgenössischen Publikationen, künstlerischen Interpretationen zu sowohl respektiven Revolutionen als auch Konventionen – und einer üppigen Bandbreite an Zitaten, Anekdoten, Fragmenten und Erzählungen aus beruflichen und privaten Kontexten.
„Dann wurde die arme Frau im Schaufenster […] aufgebockt,
wo das bezahlende Publikum sie begaffen konnte,
so lange, bis Butchells zweite Ehefrau Einwände erhob.“(262)
Ein Versuch, den Inhalt dieses Buchs irgendwie überblickend zu schildern, würde scheitern – denn die knapp fünfhundert Seiten Inhalt, die Kate Lister bietet, sprechen für sich.
Von kuriosen Episoden wie der wandelnde Ruf der Klitoris und die schmerzhaften Folgen der männlichen Herrschaft am weiblichen Körper, zu der oben zitierten Geschichte des englischen Zahnarztes Martin van Butchell, der seine Frau einbalsamierte und als Puppe ausstellte, über die „wahrscheinlich verstörendsten Bilder“ der Historie der Gynäkologie – bis hin zur fantastischen feministischen Revolution, die mit der Erfindung des Fahrrads einherging – aus jeder nur denkbaren Ecke der Sexualgeschichte sind hier Informationen, Gedanken, in Teilen erschreckende und in Teilen erheiternde Passagen im Buch dabei.
Nur am Titel könnte mensch meckern – auf hohem Niveau –, denn gerade im Ausklang der Monografie hebt Lister selbst hervor, dass mit diesem Buch keinesfalls die ganze Geschichte erzählt sei. Eine engere Anlehnung an den Originaltitel „A Curious History of Sex“ hätte den kecken Ton des Buchs besser getroffen – denn durchaus ist diese Monografie nicht nur eine pralle historische Darstellung mit beeindruckender Informationsdichte, sondern ein seltsames und unvergessliches Kuriositätenkabinett mit vielen faszinierenden sowie entsetzlichen Häppchen an historischem Wissen.
Dass Kate Lister mit „Sex. Die ganze Geschichte“ dazu ermutigt, über Sex zu sprechen, steht außer Frage – sie selbst formuliert es im ‚Nachspiel‘ als ein absolutes Muss.
Der Weg zum Heute ist lang und ereignisreich. Die kuriose Geschichte des menschlichen Umgangs mit seiner Sexualität führt durch zahlreiche Epochen und historische Entwicklungen; überfliegt Zeiten und Räume, Jahrhunderte und Kontinente, besucht Paläste und Ghettos, kritisiert Zäsuren und Regimes, zeigt Entdeckungen und Revolutionen auf, erinnert an blutige Kämpfe und Momente der Ungerechtigkeit. Doch ist er bestückt mit so vielen wertvollen Elementen und Revolutionen, dass die Reise sich mehr als lohnt.
Listers gnadenloser Humor, scharfsinniger Feminismus und knallharter Umgang mit Fakten gestalten diese Monografie als persönlichkeitsstark, essenziell und brennend notwendige Lektüre.
Indem sie gekonnt und fesselnd zahlreiche Verknüpfungen von Sexualgeschichte und Kulturgeschichte aufzeigt, die Verwebung des Körperlichen mit dem Künstlerischen sowie dem Politischen verdeutlicht – und die Diversität und Diskrepanz von vermeintlichen Normen, Tabus und Regeln im historischen Panorama vertieft, gestaltet Lister ein unvergleichliches menschheitsgeschichtliches Panorama des Körperlichen, welches ich mit starkem Nachdruck zu entdecken ermutige.

Bibliografie
Titel: Sex. Die ganze Geschichte
Autor*in: Kate Lister
512 Seiten | 20,00 € (Tb) (D)
Erscheinungsdatum: 11.01.2024
Verlag: btb
Durch Deine Bestellung über die mit * gekennzeichneten affiliate Links oder die Werbebanner auf der rechten
Seitenleiste verdiene ich eine Kommission. Dir fallen keine Zusatzkosten an.
Instagram | YouTube | Buchwunschliste: Sandra Falke im Netz

Hinterlasse einen Kommentar