Sarah Gilmartins packender Roman „Service“ zieht den parfümierten Seidenvorhang der Edelgastronomie auf und obduziert einen entsetzlichen #MeToo-Skandal, der mehrere Menschenleben für immer zu Grunde richtet. Aus diversen Perspektiven blickend skizziert Gilmartin den Weg vom Ruhm zum Verbrechen zur Wahrheit, begleitet Lesende von einer gehaltvollen Szene zur anderen – bis zur fatalen Konfrontation.
Kommt schon. Wir wissen doch, was zwischen dem gutaussehenden renommierten Sternekoch und der emotional unstabilen Kellnerin geschehen ist. Warum wundern wir uns, als wir beim Absturz merken, dass unsere Bremsen schon seit längerer Zeit nicht mehr funktioniert hatten?
Die Dubliner Autorin und Journalistin Sarah Gilmartin veröffentlicht unter anderem bei The Dublin Review und New Irish Writing. Aus ihrer Feder sind Literaturkritik und Essays sowie Kurzgeschichten und Romane entstanden: die Kurzgeschichtensammlung Stinging Fly Stories, eine Anthologie des Literaturmagazins Stinging Fly, erschien gemeinsam mit Declan Meade im Jahr 2018; Gilmartins Debütroman Dinner Party: A Tragedy wurde 2021 veröffentlicht. Zurzeit arbeitet sie an einem Bühnenstück.
Der Roman „Service“, aus dem Englischen übersetzt von Anna-Christin Kramer, ist Sarah Gilmartins erstes ins Deutsche übersetzte Buch – und argumentativ als ihr bisheriger literarischer Höhepunkt zu bezeichnen.
Allerdings wäre nach der Lektüre dieses Romans durchaus zu erhoffen, dass die Autorin noch viele weitere Texte hervorbringt – „Service“ erfüllt alle Ansprüche an das Allgemeine und das Besondere, die zum Beginn und im Laufe der Geschichte gestellt werden (und werden könnten), und wird seinen Voraussetzungen mehr als gerecht.
„Alles, was in Dublin Rang und Namen hatte,
ging im T ein und aus.“(9)
Als Hannah zum ersten Mal das Restaurant T betritt, fühlt sie sich zunächst verzaubert, beeindruckt, und überwältigt zugleich – denn das Dubliner Edelrestaurant zieht nicht nur Gäste, sondern auch Mitarbeitende in seinen Bann.
Verzaubert bleibt allerdings nur eine der zwei Seiten.
Einen entsprechenden Blick hinter die Kulissen des Mikrokosmos T und eine damit einhergehende Desillusionierung erhalten Lesende durch Hannas Augen im gleichen Atem: der Zauber wird durch ganz bestimmte Tricks aufrecht erhalten, unter anderem werden ausschließlich junge Studentinnen eingestellt.
Für die Protagonistin ist diese fragwürdige Taktik allerdings von Vorteil.
Es ist Hanna durchaus „bewusst, dass ich optisch nicht gerade unansprechend war“, und so wird sie während ihres Vorstellungsgesprächs von zwei Männern „mittleren Alters“ gemustert – „meinen Lebenslauf und meinen Körper – so schamlos wie diese Maschinen am Flughafen“. (11)
Lesende merken zeitgleich mit der Protagonistin, in was für eine Welt sie gerade eingeführt werden.
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Das T spiegelt den Höhepunkt dessen wider, was als Hochzeit der Spielwiesenkultur erfolgreicher Geschäftsmänner beschrieben werden kann: Der Roman spielt in der Zeit zwischen 1995 und 2007, in der Irlands Bruttoinlandsprodukt ein exponentielles Wachstum erlebte – vorrangig durch ausländische Direktinvestitionen von Unternehmen wie Dell, Intel und Microsoft – und das Land in Analogie zu den Tigerstaaten Südostasiens als „keltischer Tiger“ bezeichnet wurde.
Die fetten Jahre also – in denen reiche und erfolgreiche Männer ihren flüchtigen Ruhm mit Misogyne und schweinischem Benehmen in vollem Maße ausübten und von ihren männlichen Kellnern auch noch dazu ermutigt werden, sich gegenüber den weiblichen Kolleginnen widerlich zu verhalten.
Alles nur Spaß. Ist doch nichts passiert?
Daniel Costello, Chefkoch und Inhaber des T, erscheint für Hanna zunächst als Fels in der Brandung zwischen schäumenden Wellen: Weder von seinen temperamentvollen Angestellten noch von den prominentesten Gästen lässt er sich großartig bewegen oder einschüchtern; denn er weiß um seinen Wert, um sein soziales Gewicht als Shooting Star – dass sein Name den Eingang schmückt, hat Daniel sich schließlich mit härtester Arbeit verdient.
Von Hannas Perspektive zu der Daniels wechselnd, zeigt die Geschichte mehr zu Jugend und Werdegang des Sternekochs. Lesende erfahren über Daniels angespannte Beziehung zur Mutter und die Freundschaft mit seinem Bruder, tauchen mit ihm ein in die Faszination Kochen und Küche, Zutaten und Gerichte, Vorbereitung und Feingefühl – sehen das Gefecht, fühlen die wortwörtlichen und übertragenen Flammen in einer Küche, wo ein eingespieltes Team aus intensiven Individuen gemeinsam vorzügliche Speisen vorbereitetet, wo Aggressionen und Utensilien des Öfteren durch die Gegend fliegen, während alle „kochten, brüllten und fluchten.“ (10)
Im Eifer des Gefechts ist ja auch mehr erlaubt als sonst. Man(n) muss doch auch mal loslassen dürfen, bei solchem Stress. Hauptsache, das Gericht wird perfekt. Denn wir wollen doch alle, dass die Gäste zufrieden sind.
Immer wieder begegnet Lesenden die klare Selbstidentifizierung Daniels als Koch, aus seiner Sicht ein Mann mit Stellung, eine – nein, die tragende Säule der Küche, des Restaurants, der Familie, der Wirtschaft; ein Held und ein Künstler, doch auch ein zerbröckelndes Ideal mit Podest und Pathos.
Immer wieder stellt Daniel sich rhetorische Fragen im Stil von Was ist ein Koch? – und beantwortet diese mit resoluten Slogans wie: Ein Koch ist jemand, der Ordnung hält.
Daniel sieht sich nach jahrelangem Schuften als Verkörperung dieses Ideals und ist bereit für das erfolgreiche Innehalten seiner Position alles zu geben.
Alles.
„Die Leute, die mit ihrem Schicksal unzufrieden sind,
werden immer einen Sündenbock finden.
Wer wäre da besser geeignet als ein
wohlhabender, erfolgreicher weißer Mann?“(272)
Im Weiteren erfährt die Geschichte eine Ergänzung durch die Perspektive von Daniels Frau Julia, die sich größtenteils außerhalb des T-Universums bewegt. Somit fungiert sie technisch gesehen teils als Mauerschau, teils als Teichoskopie – Julias Figur und Perspektive gelten jedoch vor allem als erfolgreiche Erweiterung der üblichen Dichotomie von Opfer und Täter, innen und außen, Verteidigung und Anklage, Wahrheit und Wirklichkeit.
Julias Schilderungen illustrieren Daniels Person außerhalb seiner argumentativen Dauerperformance in der Rolle als Koch und zeigen zunächst Stücke von Daniels authentischem Innenleben.
Doch ist selbstredend auch Julia selbst ganz klar ein wichtiger und sichtbarer Bestandteil der Konstellation. Auch sie als zunächst extern erscheinender Teil beider Welten, doch mehrwerdend essenzielles Fragment aller Aspekte der Geschichte, fesselt als eigenständige Figur und ergänzt die Handlung gekonnt.
Vor allem lassen die Wechsel und graduellen Vervollständigungen der jeweiligen Perspektiven zueinander in den Augen des Lesenden – der schlussendlich als einzige Person wirklich alles erfährt, ein fein gewobenes Netz an Illusionen deutlich werden. Die Perspektiven illustrieren, wie alle drei Figuren der Verschleierung von Tatsachen nachgehen; sie malen ein Bild von sich selbst, von ihren Nächsten – und errichten ein wackliges Konstrukt der eigenen Vergangenheit, welches einem intersubjektiven Erklärungsversuch nicht standhält.
Dieses Netz aus individuellen und kombinierten Lügen – auch als Nuancen der Wahrheit zu interpretieren – übt eine unglaubliche Faszination aus und fesselt fester und fester, während die Handlung heftiger und heftiger wird.
„Ich schaue hoch, und die Jahre fallen von dir ab.
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sehe ich dich wirklich,
[…]
ein Fremder, ein Mann, auf den ich
in der Wohnung einer Freundin zugehe,
ein Fehler.“(72)
Die Art des multiperspektivischen Schreibens, wie Gilmartin sie beansprucht, kann gefährlich und unbedacht ausfallen. Doch stattet die Autorin jede ihrer Figuren vielschichtig aus, hinterfragt Emotionen, Tatsachen und Nuancen – und hat ihren Text in puncto Kulissen, Personal und Komposition stets unter Kontrolle.
Gilmartin, die selber im gastronomischen Bereich tätig war, behält stets alles im Auge – wie eine Schichtleitung, die immer weiß, an welchem Tisch ihre Teammitglieder sind, die immer alles merkt, was andere nicht merken, und dabei selber unsichtbar bleibt.
Beeindruckend. Umso mehr für Lesende wie mich, die ebenso einige Jahre als Kellnerin gearbeitet haben und viele Details und Nuancen über das sofort Sichtbare hinaus wiedererkennen.
Gilmartin wurde in einem Interview gefragt, inwiefern das Rezensieren von Büchern anderer sie in ihrem eigenen Schreiben beeinflusst. Darauf erwiderte die Autorin, dass sie vor einigen Jahren ein vertieftes Interesse an Komposition und Struktur entwickelt hatte – insbesondere daran, wie die Reihenfolge von Ereignissen ebenso als eine Reihe von subtilen Hinweisen fungieren kann, die Lesenden nicht auf den ersten Blick auffallen.
Wer die Geschichte zu Ende gelesen hat, kann diesen Aspekt sorgfältig reflektieren und merken, wie die Reihenfolge der gewählten Perspektiven und der verfügbaren Informationen bisher unbemerkte Botschaften übermittelt – und möchte, so zumindest meine Leseerfahrung, mit dem Wissen um den Ausgang direkt wieder von vorne beginnen, so heftig das Buch auch zu lesen sein mag.
Denn versteckte Nuancen und kleine Widersprüche, Lügen, Positionen und Details, die den Figuren weitere Ebenen verleihen und das kompositorische Können der Autorin überhaupt erst im Nachgang zeigen können, gibt es reichlich zu entdecken.
Sarah Gilmartins Roman „Service“ ist ein faszinierendes, fesselndes und heftiges Buch, welches noch sehr lange in mir nachklingen wird. Meinerseits spreche ich für dieses wuchtige Werk eine Leseempfehlung mit Nachdruck aus.

Bibliografie
Titel: Service
Autor*in: Sarah Gilmartin
320 Seiten | 24,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 29.02.2024
Verlag: Kein & Aber
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