Geschlossene Gesellschaft. Vigdis Hjorth: „Ein falsches Wort“

Vigdis Hjorth untersucht in ihrem neuesten Roman „Ein falsches Wort“ komplexe Familiendynamiken, widmet sich der Psychologie der Erinnerung – und zeigt, wie ein materieller Gewinn zur emotionalen Zerstörung führen kann, wenn ein furchtbares, für Dekaden verschwiegenes Familiengeheimnis zur unumgehbaren Gegenwart wird.


Vigdis Hjorth ist vielfache Bestsellerautorin und eine der meistrezipierten Gegenwartsautorinnen Norwegens. Sie war bis dato für den Literaturpreis des Nordischen Rates, den National Book Award sowie den International Booker Prize nominiert. Hjorths Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ erschien in deutschsprachiger Übersetzung von Gabriele Haefs im vergangenen Jahr. Es handelt sich um die komplexe Geschichte einer entfremdeten Familie, ein Panorama weiblicher und menschlicher Wunden, einen Versuch der Versöhnung unter argumentativ drastischen Bedingungen.

„Ein falsches Wort“, übersetzt von Gabriele Haefs, ist eine weitere Glanzleistung Hjorths in puncto Familienpsychologie, ein Meisterstück an analytischer Obduktion; ein feinfühlig gewobenes Netz aus äußerst komplexen Figurendynamiken, eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit ambivalenten Emotionen im Angesicht des Nachhalls schwerster Familientraumata.


Sie werden doch bald sterben, weinte ich.
Du wirst auch irgendwann sterben, sagte er.


Das hatte ich vergessen
.“(69)


Nachdem Hjorth sich in ihrem letzten Buch hauptsächlich mit der Mutter-Tochter-Dynamik auseinandergesetzt hatte – die noch mit einer Prise Schwesternpsychologie bestreut wurde –, geht sie nun mit wachsenden Ambitionen ans nächste Werk, welches zwar ebenso als Familiengeschichte zu beschreiben ist, doch von einem weit komplexeren Figurengespann gezogen wird.


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Dass die Protagonistin Bergljot die Handlung sachlich und strukturiert einleitet, gerät zum Ende der introspektiven, komplexen und emotional intensiven Lektüre vollständig in Vergessenheit. Zum Ausklang der Geschichte sollten Lesende sich diese innere Ruhe zum Start der Erzählung erneut vor Augen führen – dem aufmerksamen Betrachtenden wird sie zur Interpretation einiger Details nämlich von Wert sein.

Der einleitende Abschnitt wurde fünf Monate nach dem Tod von Bergljots Vater verfasst und stellt einen äußerst informativen Erzählrahmen zur Verfügung. Es habe Streitereien zwischen den vier Geschwistern bezüglich des Familienerbes gegeben. Bergljot habe sich entschlossen, kurz vor dem Tod des Vaters Wort und Partei zu ergreifen.

De jure entsteht der Zwist tatsächlich aufgrund der von allen Seiten umstrittenen Beerbung der elterlichen Hinterlassenschaft. Vorrangig geht es um den Besitz zweier Ferienhäuser und der angemessenen Verteilung zwischen vier Geschwistern – jedes Familienmitglied hegt eine eigene Vorstellung davon, was als fair und richtig gilt.

De facto schlummert im Kern des Familienstreits allerdings etwas viel Bedeutenderes, ein schreckliches emotionales Erbe: Eines der Geschwister hat mit einem grauenvollen Kindheitstrauma zu kämpfen und besteht darauf, auch diese Hinterlassenschaft nun fair aufzuteilen.

Was von einer Partei als lähmendes Trauma empfunden wird, beschreibt eine andere als Lüge. Ein Konflikt, der seit Dekaden schlummert, wird wieder erweckt und stellt die bereits prekären Bindungen zwischen Eltern und Geschwistern erneut auf die Probe.

Die Konfrontation aller Geschwister mit Wahrheit, Schuld und Verantwortung führt einerseits zu verletzten Gefühlen – andererseits zur vollständigen psychologischen Dekonstruktion.


Mein Schmerz war nicht krank, aber total.
[…]
Am Rand zu stehen kann Kompetenzen geben.
[…]
Wenn man das Glück hat, erfolgreich zu sein,
darf man nie vergessen, welche Kompetenzen
man im Unglück erworben hat
.“(171)


Es geschieht als Bergljot gerade einen Text verfasst: eine bestimmte Formulierung triggert eine grausame Kindheitserinnerung. Die unterdrückte Vergangenheit kommt wieder hoch und verursacht das erneute Erleben dessen, was ihr Vater ihr angetan hat. Was ihre Mutter leugnete und ihre Schwestern verschwiegen.

Was ist eigentlich passiert, als die Protagonistin fünf war? Welche Konsequenzen hätte es geben sollen, wer trägt die Verantwortung – und was hat das Ganze mit den Hütten auf Hvaler zu tun?

Kann es überhaupt einen Ausblick auf Versöhnung geben? Ist es möglich, Vergessen, Vergeben und Heilung zu vererben?

Weder Bergljot noch ihr älterer Bruder gehören zu den regelmäßigen Besuchenden im Elternhaus – aus unterschiedlichen Gründen. Was genau wann zwischen wem passiert ist und wie die angespannten Beziehungen sich auf die Enkelkinder auswirken, beschreibt und untersucht Hjorth mit einer faszinierenden Gründlichkeit, fährt mit einer ungeschönten und an diversen emotionalen Grenzen rüttelnden ungemütlichen Sachlichkeit fort.


Die makabre Erkenntnis, eine logisch und sachlich geschriebene Erzählung zu lesen, die von einer sehr verletzten und tief traumatisierten Person stammt, erreicht den Lesenden nach und nach und ist Hjorths erzählerischem Können hoch anzurechnen.

Im Laufe des Romans wird die Wahrheit aus Bergljots Augen Schicht für Schicht schärfer und detailreicher. Währenddessen sehen wir im Laufe des Romans mehrwerdend, dass die Figur, durch deren Augen erzählt wird, vom restlichen Personal als theatralisch, emotional, milde gesagt als unzuverlässig beschrieben wird.

So mischen sich Briefe und E-Mails, Aussagen und Gespräche der Geschwister zu- und miteinander, und aus den Dynamiken geht hervor, wie Bergljots Mutter und Geschwister sie verachten, wie es ihnen vor ihr graut.

Wohl am schärfsten kommt dies bei den Vorbereitungen zur Beerdigung des Vaters zur Geltung, als ihre Schwester sicherstellen möchte, dass Bergljot bloß keine Blumen sendet oder erwirbt („Befürchteten sie, ich könnte einen Kranz mit einer Schleife mitbringen, auf der Beleidigungen standen?“, 185).

Und doch glauben wir als Lesende Bergljot, folgen ihrer sehr plausiblen, linearen, logischen Erzählung, sehen und verstehen ihre Perspektive, da diese in einem gekonnten Gleichgewicht aus Überwindungsarbeit ihrerseits, neutralen Fakten und tiefen emotionalen Schmerzen andererseits niedergeschrieben wurde und daher mit einer unumgehbaren Wucht auf Lesende niederprasselt, die weder sachlich gesehen unglaubwürdig ist noch jemanden emotional kalt lassen könnte.


Dementsprechend teilen Lesende auch das Entsetzen der Protagonistin über die Reaktionen ihrer Geschwister, doch vor allem ihrer Mutter, zu demjenigen Ereignis, welches die Familie eigentlich schon vor Dekaden hätte zerstören sollen.

Genau wie in „Die Wahrheiten meiner Mutter“ lässt Hjorth ihre Figuren allerdings grundlegend zu Wort kommen, wenngleich die von ihnen vertretene Position in Bezug zur Protagonistin keine positive ist. Sie erlaubt Empathie, Zweifel, Infragestellung von Positionen, stellt divergierende Meinungen zu scheinbar sehr deutlichen Übergriffen und Verbrechen in den Raum.

Und so nuanciert sie die Menschlichkeit von Bergljot noch feiner – denn Opfer und Überlebende sprechen oft, zu oft, sich selbst die Schuld zu, sympathisieren mit ihren Peinigern und versuchen, Tätern zu verzeihen, eine Räson hinter dem Geschehenen zu finden.

Eine Apologie, einen Freispruch. Für ihren geliebten Vater.

Nur um dann – dank Therapie, dank einer gesunden Abtrennung von den toxischen Verhaltensmustern seitens ihrer Familie, dank ihrer inneren Kraft und ihrer geistigen Befähigung – wieder zur Wahrheit zurückzufinden.


Dann rief ich mir in Erinnerung, dass der Vater,
mit dem ich Mitleid hatte, nicht mein Vater war,
sondern ein fiktiver Vater, der archetypische Vater,
der Mythos Vater, mein verlorener Vater.
(79)


Skepsis und Begeisterung sollten bei der literarischen Analyse hervorragender Bücher Hand in Hand gehen, weswegen ich an dieser Stelle ein wenig Meckern auf hohem Niveau praktizieren möchte.

Zum einen ist das Personal des Romans sehr üppig, was bei vier erwachsenen Geschwistern mit respektiven Familien natürlich als realistisch zu bewerten wäre – doch sich wirklich jedes einzelne Kind mit Namen und Zugehörigkeit einprägen zu müssen ist meines Erachtens unnötig.

Andererseits hat diese Menge an Teilnehmenden auch einen produktiven Zweck: Beispielsweise wird die Perspektive der nächsten Generation auf das Geschehene im Form von Bergljots Tochter einbezogen, was zu einer weiteren Ergänzung der perspektivischen Darstellung des Familientraumas und des vererbten Schmerzes seitens Enkel*innengeneration führt. Diese Entscheidung sowie die entsprechende Ausführung fand ich wiederum sehr gelungen und interessant.


Des Weiteren werden die innerfamiliären Geschehnisse mit historischen Ereignissen auf der Weltbühne kontextualisiert, um eine existenzialistische Perspektive auf die Handlung zu werfen und das Konkrete in einem allgemeineren Rahmen zu verorten. Es geht unter anderem um den Holocaust, Beziehungen zwischen Israel und Palästina sowie die politische Geschichte Jugoslawiens.

Während literaturgeschichtliche Anmerkungen mir wiederum Spaß bereiteten (Bergljot sucht in einer emotionalen Krise zuerst Hilfe bei Silvia Plath und danach bei Gott), fand ich viele der entsprechenden Passagen persönlich etwas überflüssig, da Hjorth mit den Reflexionen Gefahr läuft, ein in sich wirksames und ausreichend komplexes Individualdrama mit einem Genozid oder einem Bürgerkrieg zu vergleichen.

Vieles des Erwähnten rast in knapper Form am Lesenden vorbei und wird organisch an die Gedanken einer gewissen Figur gebunden, die wiederum nichts mit der Familie zu tun hat und in der Handlung ebenso als etwas unnötig ausfällt.

Selbstverständlich hat eine größtenteils neutrale externe Perspektive auf die emotional sehr geladene Situation das Potenzial interessant zu sein, wenn diese mit Gedanken von Freud und Jung spielt und eine humanphilosophische Perspektive zur ergänzenden Analyse der Situation bietet („Das ist der Schwachpunkt des Europäischen, sagte Bo, des westlichen Menschen, schrieb Freud, sagte Bo, dass wir von unseren zivilisatorischen Triumphen geblendet sind, dass wir unsere Fähigkeiten zu Kultur überschätzen, dass wir unsere Triebe unterschätzen.“ S. 300)

Doch ob diese Perspektive notwendig ist und ob sie das Buch schlussendlich wirklich bereichert oder eher als literarische Megalomanie einzustufen wäre, bleibt dem Lesenden überlassen. Ich freue mich auf Meinungen und Kommentare zu diesem Aspekt und allerlei Gedanken zum Buch.

Schließlich bleibt noch, das Ende des Romans zu loben: der Ausklang ist knapp, sachlich und zufriedenstellend, knotet die Geschichte fein-säuberlich in den zum Beginn entworfenen Rahmen ein und erlaubt es, die emotionale Achterbahn nach einem innerlichen Totalschaden äußerlich fleckenfrei zu verlassen.

Bis zur ersten Reflexion – denn Vigdis Hjorths „Ein falsches Wort“ wird in mir nicht über Wochen, sondern über Monate nachhallen.

Insofern möchte ich für diesen Roman eine Leseempfehlung mit Nachdruck aussprechen.

Bibliografie

Titel: Ein falsches Wort
Autor*in: Vigdis Hjorth

400 Seiten | 25,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 13.03.2024
Verlag: S. Fischer

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1 Antwort

  1. Wie hatte ich den Roman erwartet, nachdem ich den letzten so geliebt habe. Aber: Er hat mich nicht erreicht, ich habe ihn abgebrochen. Ich werde es nochmals versuchen, da ich immer noch hoffe, reinzufinden, aber mir fehlte zu viel. Es war für ich kein Fluss da, kein Sog, nichts, das mich halten wollte. Es waren Bruchstücke. Lose. Ich habe sie kaum fassen können. Es war zu psychologisierend, es hat mich förmlich genervt. Ich kam an einen Punkt, an dem ich zu mir sagte: Nein, das macht so keinen Spass, da möchte ich nicht tiefer rein. Das ist schade.

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  2. Auf deine Empfehlung hin habe ich vor zwei Tagen zu dem Buch gegriffen und, nachdem ich es kaum aus der Hand legen konnte, soeben beendet. Zurückgelassen hat es mich emotional sehr aufgewühlt, sodass ich konsequent zwischen brennenden Augen, Wut, innerer Unruhe und Introspektion hin und her gerissen wurde. Dieses Buch wird noch nachhallen, noch mehrfach im Kopf gedreht und gewendet werden müssen, bis ich mir eine abschließende Meinung bilden kann. Du schreibst:

    Zum Ausklang der Geschichte sollten Lesende sich diese innere Ruhe zum Start der Erzählung erneut vor Augen führen – dem aufmerksamen Betrachtenden wird sie zur Interpretation einiger Details nämlich von Wert sein.

    Ich wünschte, wir könnten darüber reden, was du damit meintest. Ich habe meine eigenen Theorien, wie sich das Ende mit dem Anfang verbinden lässt, aber dennoch auch das Gefühl, eine letzte Erkenntnis noch nicht erlangt zu haben.

    Ich danke dir auf jeden Fall für die Empfehlung, die ich ohne dich mit Sicherheit nicht entdeckt hätte.

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    • Es freut mich sehr, dass du das Buch aufgrund meiner Besprechung gefunden hast! Vigdis Hjorth war für mich eine ganz große Entdeckung, ich möchte gerne mehr von ihr lesen.

      Grob erklärt: Ich schaute mir die ersten fünf bis Seiten vor Verfassen des Beitrags nochmal etwas genauer an, da ich immer relativ ruhig über die markierten Zitate schweife und mir Zeit nehme. Dadurch habe einen anderen Blick auf das Gelesene gewonnen. Ich konnte mir besser vor Augen führen, aus welcher Position die Schreibende blickt und fühlt, und das im Laufe des Romans entstehende intensive Stimmengewirr dadurch etwas ordnen, dass ja doch durch eine bestimmte Perspektive erzählt wird. Grundlegend möchte ich das Buch eh irgendwann, hoffentlich zeitnah, nochmal lesen, da mir bewusst ist, dass da einiges zwischen den Zeilen versteckt liegt. Nicht unbedingt etwas an der Haupthandlung änderndes, doch gut ergänzendes. Eventuell auch den Blick auf die Protagonistin bezeichnend ergänzend, wenn ich mich jetzt richtig erinnere.

      Du kannst auch weitere Anhaltspunkte gerne hier im Kommentarium lassen, ich werde sie lesen und mir erneut Gedanken machen.

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