Der Prager Autor Franz Kafka gehört zu den bedeutendsten Schrifsteller*innen des 20. Jahrhunderts. Kafka ist so berühmt, dass sein Schreiben mit einem eigenen Adjektiv beschrieben werden muss, um den Ton der Werke zu treffen: kafkaesk.
Nicht nur der erste Satz der Novelle “Die Verwandlung” gehört zu den zitiertesten ersten literarischen Sätzen per se. Auch der Beginn des Romans „Der Process“ genießt eine breite Bekanntheit. Bereits der Einstieg in die Handlung weist eine beeindruckende Komplexität sowohl in ihrem Inhalt als auch trotz seiner Knappheit und Abruptheit auf.
„Der Process“ ist in diesem Frühjahr – dem Kafka-Jubiläumsjahr, welches bisher eine Fülle an neuen Kafka-Bändern und Kafka-Betrachtungen hervorgebracht hat – neu veröffentlicht worden, mit üppigem Stellenkommentar und gehaltvollem Nachwort des Kafka-Experten Reiner Stach. Lohnt sich die Lektüre dieser ungemütlichen und verschwommenen Erzählung über die makabre Bredouille eines Prokuristen allerdings auch im Jahr 2024?
Franz Kafka (1883–1924) wurde in Prag geboren und wuchs als älterer Bruder mit drei Schwestern in der jüdisch-böhmischen Kaufmannsfamilie auf, wo er bereits in jungen Jahren im Galanteriewarenladen des Vaters tätig war. Kafka studierte zunächst Chemie und hatte Berührungspunkte mit Germanistik und Kunstgeschichte, promovierte allerdings in Jura im Juni 1906 und arbeitete ab 1908 für die Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag, wo er als Beamter graduell die Karriereleiter hochstieg.
Kafka obduziert in seinen Werken das Leben als Angestellter, zeigt seine Protagonisten als Individuen, die einen von Institutionen und Konventionen auferlegten Existenzzwang erleben – Personen, denen es misslingt, Teil der normierten Gesellschaft zu sein. Auf dem Weg zur Erfüllung ihrer alltäglichen Aufgabe und auch an dieser Aufgabe, scheitern sie. Manchmal können wir bei nicht vollendeten Werken zwar nur erahnen, was zum Schluss geschieht, doch in der Handlung noch lange genug lesen, um ebenso zu wissen – es führt zum Scheitern.
Beispielsweise für den unvollendeten Roman „Das Schloss“ verriet Kafka das Ende der Geschichte seinem Freundeskreis, sodass für Lesende zumindest keine Zweifel in puncto Ausgang bestehen.
Obwohl Kafkas Texte eine intensive Pein und Qual darstellen und im sachlichsten Ton beobachten, wie Figuren oft in Momenten der absoluten Bloßstellung verweilen müssen, ist das ominöse System, das über der Person steht, nicht unbedingt dasjenige, was direkt und offensichtlich beschrieben wird.
Der Richter ist nicht unbedingt ein Richter – auch wenn der Protagonist ein Jurist ist. Der Richtet wartet nach der Arbeit zu Hause auf den Sohn und nicht im Büro im oberen Stockwerk auf den Angestellten. Diese Nuancen aus der Biografie und den Briefen erlesen zu haben gewährt eine deutlich facettenreichere Lektüre von Kafkas Werken – die aber auch als Texte per se schon vielschichtig genug sind und eine beeindruckende Variabilität an Analysen ermöglichen.
Perspektiven und Lesarten zu Franz Kafka werden nicht nur in der enormen Anzahl der Abhandlungen und Reflexionen, Filmen, Büchern und Musik über Kafka verarbeitet, sondern selbstredend auch in den Literaturwissenschaften. Beispielsweise weist das für Kafka-Fans sehr empfehlenswerte Reclam-Bändchen „Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen.“ eine immense Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten auf.
„Was waren denn das für Menschen?
Wovon sprachen sie?
Wecher Behörde gehörten sie an?“(10)
Als der Prokurist Josef K. – nicht ungleich dem Handelsreisenden Gregor Samsa – eines morgens seinem alltäglichen Leben nachgehen möchte, warten bereits zwei Männer auf ihn, um ihn zu verhaften.
Warum, wofür, auf wessen Befehl? Dies K. zu verraten steht den Wächtern nicht zu. Auch sie sind nur Teile des Systems und müssen den ihnen zugeordneten Platz hüten.
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Während K. versucht, seinem normalen Leben nachzugehen – denn das darf er –, hat er außerhalb seiner sehr übersichtlichen Routinen zu Terminen zu erscheinen und seine Verteidigung zu begründen. Nun gilt es, den Process zum einen voranzubringen, zum anderen mehr über die eingebundenen Institutionen zu erfahren – und zu guter Letzt seine Unschuld zu beweisen.
Doch wie auch immer K. sich bemüht (oder auch nicht bemüht, denn es schleicht sich eine interessante Diskrepanz in seine Methoden ein) – nicht nur der Process scheint ihm zu entgleiten. Nach und nach verliert der Prokurist die Übersicht sowohl im Privaten als auch im Beruflichen.
In „Der Process“ steht sowohl für den Protagonisten als auch für Lesende genau eines fest: Josef K. wird angeklagt. Unbeschrieben scheinen viele zu wissen, was nun zu tun wäre, um sich dem Process zu fügen. Wie aber gegen die Anklage zu kämpfen oder sie gar von sich zu weisen wäre? Dies scheint weder üblich noch möglich noch von irgendjemandem als möglicher Ausgang wahrgenommen zu werden.
Ebenso verheerend für den Protagonisten: jeder scheint mehr über Processe und deren Mikrokosmos zu wissen als Josef K.
„Sieh Willem er gibt zu,
er kenne das Gesetz nicht
und behauptet gleichzeitig
schuldlos zu sein.“(13)
Zudem scheinen auf einmal alle Teilnehmenden seiner Wirklichkeit darüber bescheid zu wissen, dass der Process begonnen hat. Eine für K. ungemütliche, gar peinliche und anscheinend ausgangslose Situation, über die er keinerlei Macht hat, stellt ihn vor seinem gesamten Umfeld bloß.
Kafkaesk.
K. sucht Unterstützung bei diversen Menschen: seinem Onkel, einem Advokaten, einem Gerichtsmaler, einem Kaufmann, gegen den ebenfalls ein Prozess geführt wird, et cetera. Als (für den Process) neutrale Figuren tauchen im Büro der unterstützende Direktor und der unsympathische Direktor-Stellvertreter auf; immer wieder begegnen wir Vertreter*innen des Gerichts wie den Vollstreckern und den Wächtern.
Eine märchenhafte Welt mit unscharfen Konturen und vielen Gesetzen – die Josef K. nicht im geringsten zu kennen scheint, obwohl auch er Teil dieser Welt ist.
„Auch diese Mädchen gehören zum Gericht.
[…]
Es gehört ja alles zum Gericht.“(162)
Im weiteren Verlauf der Handlung ist es enorm interessant zu beobachten, wie K. nicht nur ein verzerrtes Selbstbild, sondern auch eine von der (argumentativen) Realität abweichende Wahrnehmung des Gerichts vorweist, während alle Figuren, denen er begegnet, ihn seines Glücks versichern und betonen, wie K. im Vergleich zu anderen Angeklagten sehr gut behandelt wird. Dies hindert allerdings weder den Progress von K.-s zunehmenden Nihilismus des Gerichts gegenüber – noch seinen unbezwingbaren Wunsch, sich weiterhin ohne die Hilfe der anderen voranbringen zu wollen.
Da der Process episodisch geschrieben worden ist und insofern keine wirklich lineare Handlung besitzt, die als Lektüreerfahrung mit Beginn und Klimax wahrgenommen werden kann, wird im Weiteren von einer Handlungswiedergabe oder einer Bewertung der Erzählung selbst abgesehen. Weit faszinierender sind die magischen Elemente der Erzählwelt, die an Stephen Kings „Es“ erinnernde „oben“-Sphäre der Kanzleien, die den handelsüblichen Naturgesetzen nicht gehorcht, sowie die autobiografischen Zusammenhänge bestimmter Episoden, die einen kurzen Weg von K. zu Kafka bieten.
Sowohl der Stellenkommentar von Reiner Stach als auch das Nachwort der neuen Ausgabe bieten hervorragende Ergänzungen zu den erwähnten und vielen weiteren Aspekten, weswegen ich diese Ausgabe Kafka-Fans wärmstens ans Herz lege.
Als Einstieg ins Werk des Autors hätte ich dennoch eine andere Empfehlung.
Mehr über Stachs erhellenden Stellenkommentar und meine persönlichen Kafka-Tipps findest Du im ausführlichen Video zu Leben, Werk und Rezeption von Franz Kafka. Ich freue mich sehr auf Deinen Besuch und Dein Abo zur Unterstützung dieses Blogs sowie des Kanals.
Gerne können wir in den Kommentaren weiter über den Process, über Kafkas Leben und Werk sprechen. Ich freue mich auf Deine Gedanken und Ergänzungen!

Bibliografie
Titel: Der Process
Autor*in: Franz Kafka
397 Seiten | 34,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 28.02.2024
Verlag: Wallstein
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