Berner Autor*in Kim de l’Horizon wurde für den Debütroman „Blutbuch“ (2022) mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet und ist aktuell für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert.
Was steckt hinter diesem brachialen Titel – und warum ist „Blutbuch“ der mit Abstand wichtigste Roman auf der diesjährigen Longlist?

Kim de l’Horizons autofiktionaler Roman „Blutbuch“ ist eine persönlichkeitsstarke, polarisierende Auseinandersetzung mit der fragmentierten Identität einer jungen nonbinären Person.
Queere Erzählformen begründen, eine Plastik in starre, schwarzweiße Strukturen einzuarbeiten und den Begriff „Identität“ zu seinen ambivalenten Wurzeln zu verfolgen galten, so de l’Horizon als Ziele des Romans. (Dlf Kultur)
Sprachlich, erzählerisch, stilistisch – de l’Horizon gelingt mit „Blutbuch“ eine wahre literarische Revolution, deren Präsenz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises mehr als zu begrüßen ist.
Was in der Exposition zunächst als ein vor Liebe und Schmerz trotzendes Requiem für die geistig verwesende Großmutter beginnt, entwickelt sich schnell in eine Obduktion der eigenen Sexualität und einer – stets erhellenden, teils ungemütlichen – existenzialistischen Suchwanderung.
Anhand szenischer Beschreibungen des großmütterlichen Hauses und Episoden aus der Kindheit, der im heimischen Berndeutsch der Hauptfigur liebevoll als „Grossmeer“ bezeichneten Oma von diversen Seiten nähertretend, sie als Erinnerung aus Fragmenten errichtend, nimmt Kim gleichzeitig die eigene Identität stückeweise auseinander – sich aufs gesamte Spektrum des körperlichen, psychischen und gesellschaftlichen beziehend.
„Sexualität ist etwas Grossartiges, und es geht darum,
zu fordern, dass penetrierte Körper genauso wie
penetrierende und unpenetrierte Körper Körper sind.“(32)
Inhaltlich bewegt „Blutbuch“ sich äußerst dynamisch – und gekonnt – zwischen radikaler Sexualtherapie, familienhistorischer Untersuchung und eklektischer Selbstreflexion. De l’Horizon zerschmettert allerdings beschriftete Straßen auf dem Weg zu den erstrebten Zielen – einerseits, um zu zeigen, wie viele Grenzen es im gegenwärtigen Denken noch zu eliminieren gilt; andererseits, um alle Facetten der eigenen Persönlichkeit schonungslos preiszugeben.
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Direkt hervortretende Aspekte im Anklang von „Blutbuch“ sind die radikale sprachliche Gleichstellung des gesamten Textes – sofern aus der Perspektive der Hauptfigur erzählt wird – und die absolute Selbstoffenbarung der erzählenden Person.
Kim de l’Horizon identifiziert sich als nonbinär und gestaltet die eigene Erzählwelt aus einer entsprechenden Perspektive: mittels genderneutralen Neologismen wie „niemenesch“ und „jemensch“ oder „Ottilie Normalverbraucher*innen“ tastet si*er sich mit einer stilistischen Sicherheit zu unbegründeten Territorien heran.
Auf der Suche nach einer eigenen Identität, Sexualität, Herkunft, Verwurzelung und Sprache werden immer wieder die hemmende Sprachlosigkeit, die aus der Ortung im Anderen entstehenden Scham- und Schuldgefühle sowie aus den introspektiven und hedonistischen Suchwanderungen entstehende kreative und emotionale Krisen thematisiert und niedergeschrieben.
„[…] in diesem Immermittendrinsein, im Binaritäts-Faschismus
der Körpersprachen, sprechen meine Glieder ein Kauderwelsch.
[…]
Ich kann mich weder in der Meersprache
noch in der Peersprache bewegen.
[…]
Vielleicht ist das mit ein Grund für das Schreiben,
für dieses zerstückelte, zerbrösmelnde Schreiben.“(58)
Ob Kim auf der Suche nach Gemeinschaft, Familie oder Liebe ist – alle entsprechenden Wege sind so stark mit Verletzungen, Verlusten und Schmerzen anderer Art verbunden, sodass si*er stets von einem Gefühl des Verlorenseins belastet wird.
Zeitgleich geht Kim unapologetisch und zielsicher den Weg zur individuellen Identität, schält sich sowohl psychologisch als auch körperlich vor selbst und anderen, nimmt die damit einhergehenden Schmerzen in Kauf, um einen autonomen Raum behaupten zu können – sprachlich, seelisch und körperlich.
„[…] er öffnet die Kathedrale des Schmerzes und ich trete ein,
[…]
er zieht mir die Haut über die Ohren, da lauert noch eine
als Mann sozialisierte Körperschicht, ZIEH MICH AB,
STÜLP MICH UM […].“(161)
Faszinierend sind in gleichen Maßen die äußerst expliziten sexuellen Begegnungen mit Männern sowie eine teils reine Reduktion des Menschen auf die körperliche Dimension, beispielsweise im Vergleich zur verwesenden Grossmeer: „[…] und ich denke, wie viel billiger ein genderfluider Körper ist als ein dementer Körper und dass wir für dieses System beide als krank gelten“ (S. 210).
Mindestens genauso anregend und schockierend gestaltet de l’Horizon die Auseinandersetzung mit der kulturhistorischen Identität eines Schweizermenschen. In einer Kombination von Folklore und Forschung stellt si*er brutale Märchen und Fabeln der eigenen Ahnenforschung gegenüber. Der Titel „Blutbuch“ beziehe sich auf eine im Garten lebende Blutbuche, deren botanische Geschichte Kim erforscht und erörtert.
Anhand der Zucht und Verbreitung der Blutbuche deckt de l’Horizon entsetzliche Wahrheiten über den Zusammenhang eines augenscheinlich unpolitischen Hobbys und radikalem Nationalismus auf.
Zuletzt werden anhand der allegorischen Parallelisierung von Landes- und Individualgeschichte weitere erhellende Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Diskursen ausgearbeitet, die sowohl das semantische Feld von „Binarität“ als auch das historische Verständnis von „Blut“ um eine zusätzliche Ebene ausweiten.
Die bisherige interpretativen Themenauswahl schöpft die inhaltliche Vielfalt von de l’Horizons Debüt bei Weitem nicht aus – jedoch seien weitere Entdeckungen nun der Lektüre erster Hand vorbehalten.
„Blutbuch“ ist ein sprachlich revolutionärer Roman, der sich mit radikaler Transparenz an die detaillierte, authentische Obduktion der intensiven Schmerzen und Herausforderungen einer queeren Selbstwerdung traut – und zeitgleich mit markantem Scharfsinn kulturhistorische Verwurzelungen einer schweizerischen Familienidentität ausarbeitet.
Interessierte mit Sensibilitäten seien vorab über mehrere Szenen expliziter Körperlichkeit und extremen sexuellen Missbrauch beschreibende Passagen informiert. „Blutbuch“ verlangt Lesenden emotional viel ab und ist definitiv als harter Tobak einzustufen.
Allerdings beinhaltet de l’Horizons Debüt ein so hohes Maß an Gehalt, Gewinn, Reflexionsboden. „Blutbuch“ verteilt wuchtige literarische Fausthiebe, die beunruhigen, empören und irritieren – und erzwingt unapologetisch das Verlassen der eigenen Komfortzone.
Meinerseits gilt diese phänomenale Lektüre daher als klare Leseempfehlung mit Nachdruck.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Blutbuch
Autor*in: Kim de l’Horizon
336 Seiten | 24,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 19.07.2022
Verlag: DuMont
ISBN: 978-3-8321-8208-3
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Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Tolle Rezension! Ich hatte das Buch auf der Longlist gesehen und der Klappentext hat mich sehr angesprochen. Leider bin ich mit dem Stil in der Leseprobe nicht ganz warm geworden. Aber es freut mich trotzdem, dass es Blutbuch auf die Shortlist geschafft hat. Vielleicht lese ich es doch noch irgendwann 😊
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Danke vielmals! Es ist ganz klar ein sehr herausforderndes und polarisierendes Buch – doch finde ich es sprachlich unglaublich gekonnt, daher lohnt sich die aktive Beschäftigung mit auf den ersten Blick schwierigen Passagen am Ende definitiv. 🙂
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