Die japanische Autorin Sayaka Murata (* 1979) schreibt fesselnde, kluge Geschichten über das zeitgenössische Japan – verwebt diese überdies in fantastische, beunruhigende, absurde Fantasiewelten. Murata gewann bereits mit ihrem Debüt 2003 den Gunzō-Nachwuchspreis, 2016 erhielt sie für ihren Roman „Die Ladenhüterin“ den Akutagawa-Preis, den renommiertesten Literaturpreis Japans.
Welche makabren Details und Begegnungen zeichnen die hyperreale Erzählwelt von „Zeremonie des Lebens“ aus – und warum sind Muratas unheimliche Ideen so inspirierend?

Sayaka Muratas Kurzgeschichtensammlung „Zeremonie des Lebens“, übersetzt von Ursula Gräfe, knüpft mit der Kombination von Alltagsbeschreibungen und Obduktionen psychosozialer sowie soziopolitischer Verhältnisse in Japan eng an die früheren Werke der Autorin an.
Allerdings haben die in diesem Sammelband verfassten Storys immer einen mehr oder weniger makabren Twist, der Lesende mal grübeln, mal innehalten – mal die eigenen ethischen Grundwerte gänzlich in Frage stellen – lässt.
Für achtzehn Jahre, auch während ihrer Karriere als Romanautorin, behielt Murata ihren Aushilfsjob in verschiedenen Konbini-Filialen (japanischer Supermarkt) – war also im wahrsten Sinne als Ladenhüterin tätig und konnte aus dieser Position diverse Personen und Begegnungen mit scharfem Auge beobachten.
Murata thematisiert die für Japan typische Konformität und Konventionalität, entwirft auf den ersten Blick klare Dynamiken und einfache Konflikte – um diese dann durch makabre Stilbrüche sowie mit absurden, unheimlichen und gruseligen Facetten zu kontrastieren und zu ergänzen.
Sie zeigt, untersucht und bricht weibliche, gesellschaftliche, körperliche und psychologische Tabus, um auf unkonventionellen Wegen zum wahren Kern derjenigen Dinge zu gelangen, die ihre Protagonist*innen bewegen.
„Sobald wir sterben, werden wir zu Pullovern, Uhren oder
Lampenschirmen. Wir sind Menschen und zugleich Material.
Das ist doch wunderbar.“(17)
Murata dreht mit einer gekonnten Leichtigkeit traditionelle Familiendynamiken, moralische Grundprinzipien und emotionale Erwartungshaltungen auf den Kopf, indem sie Geschichten über Liebe, Lust und Freundschaft mit grotesken, unethischen oder subversiven Elementen verwebt.
In einfacher Sprache locken Muratas geschmeidig und gefühlvoll anmutende Storys mit interessanten Protagonist*innen – bis hin zur unerwarteten Wendung ins Abstrakte, Abgefahrene, Absurde.
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Obwohl eine allegorische Herangehensweise und eine symbolische Wahrnehmung der beunruhigenden Geschichten und Szenen interpretativ sehr viel Sinn ergeben, fungieren Muratas Beschreibungen aus jeder Perspektive betrachtet – fantastisch und real – als ein präzise geschliffener Gesellschaftsspiegel.
„Ich dachte immer, zu Menschenfleisch passt
ausschließlich Rotwein, aber hier ginge auch Weißwein.“(123)
Die Storys spielen in einer Welt, in der Menschen als Material fungieren, soziale Normen und Erwartungen aufs Genaueste erfüllt werden müssen, Individualität als zweitrangig gilt.
Kaum abweichend von zeitgenössischer japanischer Kultur – nur dass in Muratas Texten Menschen einander nicht nur symbolisch, sondern im wahrsten Sinne des Wortes konsumieren; den menschlichen Körper als Material und Kapital behandeln – sowohl als Alltagsobjekt als auch als Delikatesse.
Die köstliche Ironie in Muratas Erzählwelt fand ich vor allem in der parallelen Personifizierung von Objekten, die zu Liebe und Zuneigung fähig sind und in einigen Geschichten geradezu als Menschen behandelt werden.
Sofern eine verstorbene Person in eine Gardine verarbeitet worden ist, wie absurd wäre es, das Stück Stoff als Liebhaber zu beschreiben? Ist eine Anziehung zu Hochhäusern andersrum als pathologisch zu betrachten?
Welche Beilagen passen am besten zu Menschenfleisch?
In keinster Weise hinterlassen Sayaka Muratas Storys einen sensationalistisch oder nur auf eine Schockwirkung ausgerichteten Eindruck. Sowohl die Zeremonie des Lebens als auch die Geschichten, die sie umgeben, lesen sich als kluge, vielschichtige Beobachtungen zur menschlichen Natur; satirische Reflexionen zu gesellschaftlichen Schwächen und radikalen Auswirkungen einer kapitalistischen Mentalität sowie punktgenaue Feststellungen über merkwürdige Alltagsgedanken, die jedem Individuum begegnen können.
Nicht alle Storys bleiben emotional oder inhaltlich hängen – doch sind kürzere Fragmente und Betrachtungen gelungen als Zwischenspiel der längeren Texte komponiert worden und ergänzen diese mit weiteren interessanten Gedanken.
Für Freund*innen von Skurrilen, psychologisch waghalsigen, mit gesellschaftlichen Tabus brechenden, köstlich grotesken Geschichten – die dennoch eine überdurchschnittliche emotionale Intelligenz zutage bringen – ist „Zeremonie des Lebens“ eine starke Leseempfehlung.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Zeremonie des Lebens
Autor*in: Sayaka Murata
Übs.*in: Ursula Gräfe
286 Seiten | 22,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 20.09.2022
Verlag: aufbau
ISBN: 978-3-351-03931-8
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