Eine lesenswerte Monografie, eine überzogene Selbstdarstellung – und eine pathetische Bestandsaufnahme. Im heutigen Beitrag teile ich meine Eindrücke zu drei vor Kurzem gelesenen Sachbüchern.
Zusätzlich zu den regulären ausführlichen Buchbesprechungen erscheinen seit diesem Monat unter dem Serientitel „Drei Kurzrezensionen“ gebündelte Momentaufnahmen. Diese Texte entstehen meist als unmittelbare Eindrücke direkt während oder kurz nach der Lektüre und sollen lediglich eine Impression des jeweiligen Buchs darstellen. Weiteres können wir bei Interesse sehr gerne in den Kommentaren besprechen und ausführen.
Im heutigen Beitrag habe ich drei Sachbuchlektüren aus den letzten Wochen gebündelt.
James Fallon: „Der Psychopath in mir. Die Entdeckungsreise eines Neurowissenschaftlers zur dunklen Seite seiner Persönlichkeit“
Übersetzt von Imke Brodersen

In einer facettenreichen Mischung von Monografie und Autobiografie obduziert der Neurowissenschaftler James Fallon die soziologischen, genetischen und biologischen Aspekte der Psychopathie, differenziert drei „Standbeine“, die zur Entwicklung des Gehirns in eine entsprechende Richtung beitragen können – und wirft einen gründlichen Blick auf seine eigene schockierende Familiengeschichte.
Die Einleitung verspricht eine spannende Abhandlung über die dunkleren Ecken der menschlichen Psyche. Die darauffolgende biographische Schilderung vom Autor erscheint in Teilen zwar zweckgemäß, ist jedoch zu oft zu detailreich. Obwohl an dieser Stelle eine stark biografisch illustrierte Argumentation anvisiert wurde – schließlich fungieren die persönlichen Anekdoten, Episoden und Erläuterungen auch als Vermenschlichung des Autors – sind die Kausalitäten, die übertrieben detailreichen biografischen Momente sowie der grobe bis rüpelhafte Sprachgebrauch mehr als unsympathisch, sofern der Autor als Protagonist gelesen werden soll.
Die wissenschaftlichen Erörterungen zur Psychopathie, der unterschiedlichen Schädigungsmomente des Gehirns, die ausführlichen Gehirnbilder und schrittweise Erarbeitung des „dreibeinigen Hockers“ sind ebenso vielversprechend und interessant – wenn sie nicht an einer sprunghaften Kausalität und Chronologie einerseits, an einem unbeholfenen Sprachgebrauch andererseits scheitern würden. Es entsteht weder eine theoretische Basis noch eine Stringenz der Fachsprache, um einen leuchtenden roten Faden durch Fallons wissenschaftliche Basis zu ziehen – sofern der Autor als Wissenschaftler gelesen werden soll.
Interessante Fragen werden in den Raum gestellt, wie: brauchen wir Psychopathen, wenn Psychopathie von der Natur erwünscht ist? – jedoch geht Fallon in zu kleinen Mengen auf erwähnte soziologische oder soziohistorische Brennpunkte ein, die für wissenschaftliche Diskurse von Bedeutung wären, und entscheidet sich stattdessen für eine vermehrte Selbstdarstellung, eine Erläuterung der eigenen biografischen Meilensteine und diversen sexistisch gefärbten Betrachtungen zu seinem menschlichen Umfeld.
Fazit: Uneingeschränkt zu loben gilt es ausschließlich den Mut Fallons zur wissenschaftlichen und persönlichen Transparenz, denn die Biografie/Monografie wirft zahlreiche faszinierende Aspekte zum Thema Psychopathie und Gesellschaft auf, die ohne einen Anteil der geschilderten persönlichen Bezüge nicht zu erklären gewesen wären.
Allerdings empfand ich es persönlich als viel zu mühsam, zwischen mittelmäßig verfassten biografischen Passagen nach inspirierenden Stückchen Wissenschaft zu stöbern und spreche daher keine Leseempfehlung aus.
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Laurie Penny: „Sexuelle Revolution. Rechter Backlash und feministische Zukunft“
Übersetzt von Anne Emmert

Laurie Penny erarbeitet in ihrer Monografie diverse theoretische und praktische Wege zur Gleichberechtigung und feministischem Empowerment aus, formuliert Verknüpfungen zwischen Kapitalismus und Sexismus, zeigt zeitgenössische und historische Formen systemischer sexistischer Ausbeutung sowie intersektional fokussierte Ungleichheiten auf, die es zu überwinden gilt.
Im Wechsel mit zum Teil erschreckenden Geschichten aus ihrem eigenen Leben blickt Penny auf zahlreiche gesellschaftliche Sphären und Brennpunkte: Schauspieler*innen, Sexarbeiter*innen, Karrierefrauen*, Politiker*innen und eine variable Menge derjenigen, die sich in den zahlreichen Zwischenfächern befinden.
Penny erörtert eine Vielfalt an Formen und Methoden der in unserer Gesellschaft herrschenden rape culture, der männlichen Strategien zur globalen Dominanz – und bietet durchführbare individuelle sowie kollektive Prozesse, die zu einer wünschens- und erstrebenswerten consent culture beitragen können, die durch eine sexuelle Revolution herbeigeführt werden soll.
Vor allem beeindruckten mich Pennys fundierte Reichweite, die facettenreiche Anzahl an benutzten Querverweisen und Zitaten, ihre scharfe verbale Klinge und no-bullshit-Formulierungen (in hervorragender Übersetzung von Anne Emmert überliefert) – und die Inklusivität besprochener Bereiche.
Gerade für Einsteiger*innen mit Interesse an feministischer Literatur empfinde ich „Sexuelle Revolution“ als lesenswert, da Penny viele Basisbegriffe und ihre Rolle im feministischen Kampf ergiebig und fließend erklärt.
Fazit: Meinerseits ist die Monografie an sich sehr lesens- und empfehlenswert.
Für eine transparente Betrachtung von Laurie Penny muss allerdings in den Raum gestellt werden, dass die Person nicht ohne die Berücksichtigung von Kontroversen zu lesen ist – zum Stichpunkt Boykottinitiative BDS und ihrer Haltung zu Israel möge jede*r selbstständig recherchieren.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Suzanne Simard: „Die Weisheit der Wälder. Auf der Suche nach dem Mutterbaum“
Übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

In einer Symbiose aus biografischen Passagen und wissenschaftlichen Schilderungen erzählt Suzanne Simard in „Die Weisheit der Wälder“ über die komplexen Beziehungen zwischen Bäumen, Pilzen und Pflanzen – vorrangig am Beispiel ihrer heimischen Kanadischen Wälder.
Simard ist in einer Holzfällerfamilie aufgewachsen und hat einen Großteil ihres Lebens in Wäldern verbracht. Als Wissenschaftlerin forschte sie hauptsächlich zu den unterirdischen Netzwerken von Wäldern. Derzeit ist sie Professorin an der University of British Columbia.
Faszinierend und gefühlvoll zeigt Simard in den Beschreibungen zu diversen Forschungsprojekten auf, wie sogenannte Mutterbäume als zentrale Knotenpunkte für riesige unterirdische Wurzelnetzwerke dienen und in Zusammenarbeit mit Pilzen den Nachwuchs mit Kohlenstoff und Nahrungsmitteln versorgen.
Ebenso spannend wie die sehr detailreichen, des Öfteren ins Anekdotische und Private abschweifenden Beschreibungen aus dem Alltag der Wissenschaftlerin sind die stets in die Kapitel eingestreuten Parallelen aus dem persönlichen Leben, die Simards gezielte Annäherung von Mensch und Baum illustrieren. Inspirierend ist zudem ihr Kampf zur Selbstbehauptung als weibliche Forstwissenschaftlerin, deren Ergebnisse die hohen Köpfe der Industrie und deren gewinnorientierte Strategien zur Holzgewinnung mehr als untermauern.
Zu ausschweifend fielen aus meiner Sicht die persönlichen Passagen dieser Mischung von Sachbuch und Memoire aus. Während ich den erzählerischen Aufbau menschlicher Netzwerke als Begleitung der Etablierung der Baumfamilien in den kanadischen Wäldern nachvollziehen kann, ließen seitenlange Dialoge und Schilderungen familiärer Alltagswelten mich die entsprechenden Passagen eher überfliegen als mit Interesse verfolgen – obwohl beispielsweise mehrere gefährliche Begegnungen mit Bären dabei waren.
Fazit: Für Fans von gefühlvollen Biografien mit eingestreutem Sachwissen äußerst empfehlenswert. Wer jedoch eine reine Monografie über die Sozialisierung von Wäldern und Bäumen lesen möchte, muss leider weitersuchen.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Gerne können wir uns in den Kommentaren über Deine letzten Sachbuchlektüren und die drei besprochenen Bücher unterhalten. Ich freue mich auf Ergänzungen und Eindrücke.
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Mir liegt in Bezug auf „Psychopathologie“ der systemtheoretische Zugang momentan näher. Beispielsweise in Ramachandran „The tell-tale brain“ – dort wird über Informationsverarbeitungsverfahren das Gehirn untersucht, wann es was ergänzt, wie individualisiert diese Denkprozesse sind, wie eigentümlich und eigenartig selbstverstärkende Denkprozeduren werden können, so sehr, dass sie sich verselbständigen. Nach deiner Rezension werde ich wohl die Finger von James Fallon lassen, und statt Laurie Penny endlich „Hexen“ von Mona Chollet zu Ende lesen. Vielen Dank für deine spannenden Eindrücke!!
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Danke für die spannende Ergänzung, lieber Alexander!
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