Märchenhafte Geisterwelten, erzählerische Diamanten – und ein Deus ex Machina with a twist. Im heutigen Beitrag aus der Reihe „Drei Kurzrezensionen“ teile ich meine kompakten Eindrücke zu drei vor Kurzem gelesenen Romanen.
Zusätzlich zu den regulären ausführlichen Buchbesprechungen erscheinen seit Kurzem unter dem Serientitel „Drei Kurzrezensionen“ gebündelte Momentaufnahmen. Diese Texte entstehen meist als unmittelbare Eindrücke direkt während oder kurz nach der Lektüre und sollen lediglich eine Impression des jeweiligen Buchs darstellen. Weiteres können wir bei Interesse sehr gerne in den Kommentaren besprechen und ausführen.
Im heutigen Beitrag habe ich meine Gedanken zu drei lesenswerten Romanen gebündelt, die sich mit dem Themenkomplex Götter und Geister beschäftigen.
Maria Jansen: „Schura“

Maria Jansens Debütroman handelt von Tod und Trauer, vom Mannsein und Frauwerden.
Jansens Protagonistin wandert bereits in ihrer Kindheit am liebsten durch die märchenhaften Geisterwelten, die ihr Bruder Kostja für sie abends ausmalt.
Auch im Erwachsenenleben begleiten übernatürliche Elemente die junge Frau.
Die unzerbrechlichen Familienbande, die Geborgenheit und geschützte Position, die Schura einerseits genießt, stellt Jansen der brutalen, lebensgefährlichen Alltagswelt im russischen Karelien gegenüber, in der ihre Brüder sich behaupten müssen. Denn die Hyperinflation in Russland hat Schuras Familie an den Rand des Existenzminimums getrieben.
Die Kameradschaft und der Zusammenhalt der Geschwister, das laute Treiben am weihnachtlichen Tisch der Großfamilie, die Selbstverständlichkeit des Umsorgt seins prägen Schuras Jugend – umso schmerzvoller gähnt die Leere und schneidet der Schmerz in den Seelen und Herzen aller vier Geschwister, als Kolja, der älteste Bruder, plötzlich spurlos verschwindet.
Schura ist eine persönlichkeitsstarke und interessante Protagonistin mit gelungener Balance zwischen weiblichen und menschlichen Facetten. Die in ihr manifestierende rohe Wut, die ihr verbietet, Beziehungen zu pflegen, und den täglichen Kampf gegen die vollständige Dekonstruktion der Psyche – und des Körpers – hat Jansen auf eine authentische Art und Weise niedergeschrieben.
Kompositorisch gestaltet die Geschichte sich dahingegen ein wenig holprig: ein plötzliches Wiedersehen mit dem Bruder bringt Schura zurück in die Märchenwelten ihrer Kindheit – was echt ist und was reine Fantastik, bleibt bis zum Ende der Geschichte unklar.
Meines Erachtens begegnen sich hier zwei Geschichten, die in sich zwar fesseln, doch etwas abrupt miteinander verflochten worden sind. Einige Kehrtwendungen muten unüberlegt an, lassen mehr Fragen offen, als dass sie Handlungslinien erlauben, abzuklingen.
Fazit: Mehr Umfang und Kohärenz hätte ich von diesem sprachlich und figurentechnisch gelungenen Roman erwartet. Mehr Mut, ihre fesselnde Erzählkulisse und ihre markante Protagonistin in sämtlichen angefassten Aspekten auszufahren und zu erkunden. So vieles, was in weiteren Kapiteln hätte erkundet werden können, blieb zum Schluss im Raum stehen. Sofern Jansen jedoch zukünftig einen Roman schreibt, der sich nicht überholt, deren zweite Hälfte so überzeugend ist wie die erste, verbleibe ich voller Zuversicht und Erwartung dieser Lektüre.
Maria Jansen: Shura. Ecco Verlag, 2023. 352 S., 22€ (D).
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Sophokles: „Philoktet“
Übersetzt von Kurt Steinmann

Kurz vor Ende des Troianischen Krieges fährt Odysseus mit Neoptolemos, Sohn des Achilles, die Insel Lemnos an, auf der Philoktet vor neun Jahren von den Griechen ausgesetzt wurde.
Nach einem Biss von der giftigen Schlange der Nymphe Chryse siecht Philoktet elendig dahin und verflucht die Hellenen.
Neoptolemos soll Philoktet mit List und Hinterhalt überzeugen, den Bogen von Herakles herzugeben – denn dieser spiele eine essenzielle Rolle im Ausgang des Krieges.
Es entfaltet sich ein Spiel von Scheinheiligkeit, Lügenmärchen und Fake News.
Auch wenn sich mehrmals zeigt, dass menschliche Moral angesichts göttlicher Eingriffe absolut einflusslos ist, streben die Protagonisten dennoch Prinzipien wie Loyalität und Tugend an – und belügen mal sich selbst, mal den Gegenspieler. Schlussendlich ja doch nur zur Unterhaltung der allmächtigen Götter.
Die großartige Übersetzung von Kurt Steinmann gestaltet die Lektüre so fesselnd wie genussvoll – und am Schluss wartet ein Deus ex Machina with a twist.
Denn, so Neoptolemos: „Die Menschen müssen das von Götterseite gegebene Geschick wohl oder übel tragen.“ (88)
Mindestens ebenso entdeckenswert wie die Geschichte des Philoktet ist Markus Jankas erhellendes Nachwort zum Stück. Janka erörtert die spekulative Überlieferung einiger Zeilen, Textgeschichtliche Nuancen sowie die Position der Figuren Philoktet und Neoptolemos in der Reihe der mythologischen Held*innen, Herrscher*innen und historischen Ereignissen – insbesondere nach dem Fall Trojas – und bindet die Leitmotive fabelhaft an zeitgenössische Entwicklungen, an die „Bühnen unserer Gegenwart“ (135).
Fazit: Wer also Ödipus, Antigone oder Elektra gerne geschaut und gelesen hat, sollte sich auch „Philoktet“ nicht entgehen lassen.
Sophokles: Philoktet. Diogenes Verlag, 2022. 144 S., 25€ (D).
Djaimilia Pereira de Almeida: „Seebeben„
Übersetzt von Barbara Mesquita

Tagtäglich zieht Boa Morte durch die Gassen Lissabons und betrachtet die düstere Realität auf den Straßen – zu der er selbst gehört.
Früher hat er in der Kolonialarmee gekämpft, heute hat der alte Mann Glück, wenn er sich als Parkplatzeinweiser die nächste Mahlzeit verdienen kann.
Gleich der Geschichte des Kapitäns Celestino im Roman „Im Auge der Pflanzen“, sollten Lesende auch diesen schmalen Roman nicht auf die leichte Schulter nehmen: Pereira de Almeida kodiert und verschlüsselt, führt irre und bleibt ambivalent, versteckt in ihren szenischen Schilderungen Passagen mit der Härte und dem Glanz von Diamanten.
Unähnlich zu Celestinos Geschichte geht die Autorin in „Seebeben“ vorsichtiger – und gleichzeitig bedachter – vor.
Die Handlung öffnet sich in Spiralen, enthält mehr szenische Beschreibungen der städtischen Kulissen und des allgemeinen menschlichen Elends. Zeigt, wie Boa Morte sich in seinen täglichen Reflexionen verliert und gleichzeitig immerzu Briefe an seine Tochter schreibt, von der er Erlösung für seine Gewalttaten erhofft – zumindest für die, die er als Zivilist begangen hat.
„Seebeben“ ist eine faszinierende Lektüre, die an Reinaldo Arenas und Miguel Ángel Asturias erinnert: persönlichkeitsstark und deutungsdicht, impressionistisch und doch geradlinig. Der Text ist meines Erachtens allerdings nur für Lesende zugänglich, die bereit sind, die Vielschichtigkeit des wenigen Gesagten zwischen den Zeilen herauszuarbeiten.
Fazit: Wer die Autorin bereits kennt, wird diesen Weg mit Leichtigkeit gehen können. Als Einstieg empfehle ich jedoch den Vorgänger.
Djaimilia Pereira de Almeida: Seebeben. Unionsverlag, 2023. 160 S., 22€ (D).
Gerne können wir uns in den Kommentaren über Deine letzten Lektüren und die drei besprochenen Bücher unterhalten. Ich freue mich auf Ergänzungen und Eindrücke.
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