Der Autor und Journalist Viktor Funk (* 1978) arbeitete als Politikredakteur mit Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau und ist seit 2022 für Table.Media. tätig. Sein zweiter Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ setzte sich anhand der wahren Geschichte eines außergewöhnlichen Paares mit der Historie der Stalinschen Strafkolonien auseinander.
Funks neu veröffentlichter Debütroman „Bienenstich“, eine leicht überarbeitete Neuausgabe der ursprünglich 2017 erschienenen Fassung, erzählt auf den ersten Blick die komplexe Liebesgeschichte eines Paars mit ähnlicher Vergangenheit nebst divergierender Gegenwart – setzt sich auf den zweiten Blick jedoch mit wesentlich schwierigeren Themen auseinander.

Viktor Funks Debütroman „Bienenstich“ erschien ursprünglich 2017 im Größenwahn Verlag unter dem etwas längeren Namen „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“ und wurde nun in leicht überarbeiteter Fassung neu im Verbrecher Verlag veröffentlicht.
Ob alt oder neu: Dieser Roman ist eine Lektüre, die fesselt, zum Infragestellen eigener Denkmuster bezüglich zahlreicher Aspekte bewegt – und, wie bereits „Wir wissen nicht, was geschieht“, sanft und leise sehr tief ins Lesendenherz schneidet.
Einen sahnigen Rahmen baut Funk um seine Handlung herum zwar auf, und dies auf gekonnte Art und Weise.
Der Ich-Erzähler denkt im Auftakt der Handlung zwar an die Migration nach Deutschland in seiner Kindheit zurück, schildert einen Empfang für zwei Dutzend Familien aus Kasachstan, Sibirien und Usbekistan im Rathaus von Wolfsburg, und „glänzende, honigfarbene, mit geraspelten Mandeln bedeckte kleine Vierecke“ (7) –
– in welchem Kontext der Kuchen die Handlung zum Ausklang der Geschichte wieder abschließt, wird an dieser Stelle selbstredend nicht verraten.
Um das süße Gebäck geht es in diesem Roman allerdings nur in geringem Maße.
Funk gibt bereits an dieser Stelle den eigentlichen Ton dafür an, worum es im Buch hauptsächlich gehen soll – und dieses dreht sich nicht so sehr um die Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und Marie, obwohl der Roman die beiden an diversen Orten der Erdkugel immer wieder aufeinander treffen, einander lieben und folgen lässt.
„Ich hatte im Kindergarten gelernt, dass ich im
gerechtesten Land der Welt lebte und
dass alle Menschen gleich waren. […]
Dass die meisten auch dasselbe Schicksal teilten,
Deportierte und ihre Nachfahren waren,
darüber schwiegen unsere Eltern, Erzieher und Lehrer.“(62)
Obwohl es sich hier um eine fesselnde Beziehung zwischen Individuen handelt, die eine ausgeprägte Psyche, eine Ereignisreiche Vergangenheit voller Schmerz und Traumata und somit eine äußerst farbintensive Innenwelt besitzen, geht der Ich-Erzähler immer wieder zurück zu Reflexionen über sich selbst, seine eigene Vergangenheit – und entwickelt sich parallel zur Fortlaufenden Liebe zur Marie zu einem neuen Menschen mit einer neuen Perspektive auf die Identität als Ausländer, Migrant, Russe, Kasache und Deutscher.
Wie diese Entwicklungen für oder gegen die Liebesbeziehung wirken, wie der Ich-Erzähler die Worte und die Schritte auf dem steilen Weg zu sich selbst findet – und wie Maries innerliche Selbstsicherheit, persönliche Identitätskrise und Reaktionen auf ähnliche Herausforderungen vollständig anders ausfallen – zeigt Funk auf beiden Fronten mit einer beeindruckenden emotionalen Intelligenz und einem Feingefühl für die Menschlichkeit auf beiden Seiten des Dialogs.
Auf diesen Wegen kannst Du meine unabhängige Stimme unterstützen:
Literarische Kaffeekasse PayPal
Bestellung bei genialokal.de * | rebuy * | Thalia * | bücher.de *
Abo bei Süddeutsche Zeitung * | Studentenpresse *
Abo auf meinem YouTube-Kanal
Kauf meiner Lesezeichen (E-Mail an sandra.falke.libri@gmail.com)
Ausführliche Infos zum Thema Support findest Du hier.
Vielen Dank für Deinen Support!
Dass beide Protagonist*innen sich privat und beruflich sowohl im europäischen als auch im außereuropäischen Umfeld gut zurecht finden und zu Hause fühlen, weist argumentativ eine Mentalität und Position hin, die viele Lesende zum Beginn der Geschichte nicht nachvollziehen werden können.
Auch gehen die detailreichen Beschreibungen von Straßenspaziergängen, Bahnfahrten und Lebensmitteleinkäufen insofern nicht auf lokale Verhältnisse ein, dass eine sowohl in Delhi gewesene als auch in Frankfurt am Main gelebt habende Person (ich) vielleicht mehr zwischen den Zeilen findet als Lesende, die diese Erfahrungen bisher nicht sammelten.
Doch fokussiert die Geschichte schlussendlich auf die sich stets verändernde Dynamik zwischen den Protagonist*innen – beispielsweise darauf, wie und ob in ihrer Individualität akzeptierte Kompromisse ihren Werdegang beeinflussen.
Oder offenbaren die weltweit gespannten Bewegungen des Paars nur, wie das Unvermeidbare durch die Distanz lediglich hinausgezögert wird?
„Ich komme zu dir.
Aber ich mache das nur einmal.
Ich folge dir nicht mein Leben lang.“(76)
Der Hintergrund, die Gedanken und die Reaktionen Maries werden zu Genüge erörtert, auf ihre Positionen wird empathisch eingegangen; ihre Herkunft, ihr Selbstbild und die damit verbundenen Komplikationen in ihrem individuellen, psychologischen sowie beruflichen Werdegang bilden einen interessanten Kontrast zur Innenwelt des Ich-Erzählers.
Schlussendlich ist es die Authentizität der Synergie der beiden Figuren, die diese Geschichte so faszinierend gestaltet: beide florieren selbstständig, sie brauchen einander eigentlich nicht zu einer vollwertigen Existenz.
Und doch zieht es sie zueinander, in Gespräche und Konflikte, in Diskrepanzen, die argumentativ unlösbar sind – weil beide Erfahrungen und beide mindsets absolut legitim sind und auch als solche gewertet werden. Auch an dieser Stelle Hut ab vor Funks Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen,
„Du willst es nicht sehen.
Hier macht es einen Unterschied, woher du kommst.
Als Ausländer bist du hier weniger wert.“(133)
Wir kehren immer wieder zurück an die Zufluchtsorte des Ich-Erzählers, sitzen neben ihm beim Angeln an Seen und Flüssen; merken nach und nach, wie seine langjährige Liebe fast die Rolle einer Antagonistin einnimmt, da sie seinen scharfen Blick auf sich selbst trübt – und merken dann, was für eine unglaublich wichtige Rolle sie gleichzeitig auf seinem Weg zurück zu sich selbst spielt.
Wie mensch diesen Protagonisten wirklich kennt – als lesende Person mit ihm lebt, reflektiert und liebt; seinen Schmerz und sein Glück während jeder Trennung und vor jedem Wiedersehen fühlt – ist als erzählerische Glanzleistung zu loben.
Meinerseits spreche ich für Viktor Funks „Bienenstich“ eine Leseempfehlung mit Nachdruck aus. Dieser Roman hinterlässt in sanftester Manier tiefste Schnitte – und umarmt das durchrüttelte Lesendenherz zum Schluss wie ein guter Freund.
Und liefert – um auch den im Auftakt des vorliegenden Beitrags gebastelten Rahmen zuzukleben – unerwartet den (gar nicht so wirklich) versprochenen süßen Happen.
Im neuen Gewand, mit ordentlich Symbolgehalt, gefüllt mit genussvoller Genugtuung – sowohl um das Wissen über einen erzählerisch geschlossenen Kreis als auch um ein Gelungenes Ende.
Stark!
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Bienenstich
Autor*in: Viktor Funk
224 Seiten | 22,00 € (D)
Erscheinungsdatum: August 2023
Verlag: Verbrecher
ISBN: 9783957325655
Direkt bestellen bei genialokal.de *
Du möchtest meinen Blog unterstützen? Ausführliche Infos findest Du hier.
Dein nächstes Buch über meine Links * bestellen:
genialokal.de * | rebuy * | Thalia * | bücher.de *
Vorab bitte Cookies speichern!
Abo bei Süddeutsche Zeitung * | Studentenpresse *
Literarische Kaffeekasse PayPal
Abonnement auf meinem YouTube-Kanal
Literarische Kaffeekasse: Spende über PayPal
Vielen Dank für Eure großzügige Unterstützung: Anna, Sebastian und Michael.
Vielen Dank für Eure Unterstützung: Andreas, Karl, Orsolya, Dominik, Vassiliki, Debbie, Sofie, Corina, Melanie, Anne, Jule, Sylvia, Boris, Friederike, Annika, Tanja, Snezana, Jens, Ilona, Claudia, Viktoryia, Monica, Sebastián, Celina und Katha.
(durch Deine Bestellung über die mit * gekennzeichneten affiliate Links oder die Werbebanner auf der rechten
Seitenleiste verdiene ich eine Kommission. Dir fallen keine Zusatzkosten an.)
Audio | Video | aktuelle Lektüren | E-Mail | Support: Sandra Falke im Netz
Kategorien:Home, Neuerscheinungen




Hinterlasse einen Kommentar