Kraft, Wut und Wahnsinn. Maruša Krese: „Trotz alledem“

Maruša Kreses introspektiver und mitreißender Roman „Trotz alledem“ spielt in Slowenien und streckt sich vom Zweiten Weltkrieg bis in den heutigen Tag. Das Buch obduziert die Innenwelten sowie Umfelder von Partisaninnen und Partisanen im Zweiten Weltkrieg, zeigt den männlichen und weiblichen Alltag im jugoslawischen Sozialismus, untersucht Diskrepanzen zwischen Eltern und Kindern in Kriegs- und Friedenszeiten – und skizziert die immerwährende Unruhe in wechselnden Regimes und politischen Klimas.


© S. Fischer Verlag

Maruša Krese (1947–2013) wuchs in Slowenien auf, lebte jedoch sowohl in den USA als auch in Berlin und Graz.

Krese war aktiv in der 68er-Studentenbewegung in Ljubljana und bleibt eine der wichtigsten Vermittlerinnen zwischen dem deutschsprachigen und dem slowenischen Kulturraum.

Für ihr humanitäres Engagement im Bosnienkrieg erhielt Maruša Krese 1997 das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. „Trotz alledem“, aus dem Slowenischen übersetzt von Liza Linde, ist ihr einziger Roman.


Die wortwörtliche Übersetzung des Originaltitels „Da je me strah?“ – „Habe ich Angst?“ hätte den Kern und die Tonalität der Handlung argumentativ besser getroffen als der inhaltlich doch weit entfernter übersetzter Titel des Romans.

Andererseits ist eine starke Bindung auch zwischen dem deutschsprachigen Titel und dem Inhalt durchaus gegeben: beide Interpretationen des Inhalts sind selbstständig gewinnbringend, wie im Folgenden zu lesen sein wird.

An dieser Stelle ermutige ich diejenigen, die den Roman bereits gelesen haben, einen Kommentar mit entsprechenden Gedanken dazulassen.


Die Handlung beginnt im Jahr 1941 und streckt sich mittels vier Sprüngen bis ins Jahr 2012.



Nach einer Woche bekam ich feierlich eine Flinte in die
eine Hand und ein Glas Met in die andere gedrückt.

Und ein paar Tage später,
als ich den ersten Menschen erschoss,
wurde ich Truppenkommissarin.“(13)


„Trotz alledem“ wechselt zwischen den Perspektiven einer Partisanin und eines Partisanen und mündet im letzten Drittel der Handlung in der zusätzlichen Schilderung einer Partisan*innentochter, deren Sicht auf die im Krieg gebrachten Opfer und dessen Nachhall bei ihren Eltern mit einer erheblichen Diskrepanz zu demjenigen ausfällt, was die Eltern kennende Lesende über diese denken würden.

Während der Lektüre schreiten beide Kämpfende trotz alledem – Hunger, Schmerz, Kälte, Unsicherheit und diverse individuelle Schlachten sowie diejenigen, die an der Front geschlagen werden – stets voran, halten sich in absolut unmenschlichen Bedingungen am Leben, und versuchen, einen Punkt zu finden, an dem sie emotional festhalten können, während um sie herum „lauter Leichen“ (15) liegen.

Dabei schaffen die Figuren es stets, Gefühle der Angst zu umgehen und zu überwinden, sich selbst immer wieder fragend, woher sie eine solche Kraft überhaupt aufbringen – und folgernd, es sei „keine Kraft, das ist Wut, und das ist Wahnsinn“. (16)


Die Kombination aus männlicher und weiblicher Perspektive, sogleich sie im ersten Drittel stellenweise zahlreiche Unklarheiten und Fragen entstehen lässt, stärkt den Gesamteindruck des Romans und unterstreicht sozialkritische Interpretationsfäden, die im weiteren Verlaufs der Handlung immer wieder angesprochen werden.

Prominent, wichtig und meines Erachtens viel zu selten für sind interpretativ feministisch, doch ebenso humanphilosophisch verwurzelte Fragen: Wenn Frauen im Kampf das gleiche Ausmaß an Grauen erleben und das gleiche Ausmaß an Verwüstung auf der Seite des Feindes verursachen – warum ist es dennoch anscheinend unmöglich, sie nach der Schlacht nicht als ebenwürdig zu behandeln?


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Beide in den respektiven Buchtiteln gestellten Fragen an die Protagonist*innen werden zwar nur im Impliziten beantwortet, doch prominent thematisiert. So fragt sich die weibliche Protagonistin immer wieder, wie ihre Laufbahn eigentlich überhaupt vonstattengehen kann, fühlt sich der Steigung auf der Karriereleiter nicht würdig, zweifelt an ihrer Fähigkeit, die Position entsprechend besetzen zu können – und verzichtet im späteren Verlauf auf das Öffnen diverser sich ihr anbietenden Türen.


Deshalb werde ich ab jetzt politische Arbeit verrichten.
Politik und ich? Möge sich Gott mir erbarmen.“(35)


Parallel schreitet ein Soldat durch blutige Schlachten und marschiert über Felder, durch Wälder und Dörfer. Er verliert im Kampf nicht nur ein Körperteil, sondern sein Selbstwertgefühl, sieht sich selbst nicht mehr als vollwertiger Teil der Gesellschaft – und schon gar nicht mehr würdig der Liebe, die seine Auserwählte ihm weiterhin bedingungslos schenken möchte.

Die steigende Hoffnungslosigkeit und das Gefühl des inneren Elends, der Ekel vor sich selbst und die depressiven Tendenzen im Wechsel mit nihilistischen Schüben erinnerten an den slowenischen Klassiker Vitomil Zupan, dessen großartiger Roman „Menuett für Gitarre“ in diesem Blog bereits ausgiebig gelobt wurde.

„Trotz alledem“ ist durchaus als Gegenstück mit ausgeglichener weiblicher Perspektive auf den slowenischen Partisanenkrieg zu betrachten – beide Bücher vervollständigen die des respektiven Partners skizzierten Perspektiven und ergänzen die gegenseitige Tonalität auch in puncto sichtbarer zwischenmenschlicher Auswirkungen des vom Krieg auf äußerer und innerer Ebene ausgelösten Grauens.


Es gibt Unterschiede zwischen uns,
trotz der Brüderlichkeit und Einheit.
Nur darfst du das nicht laut sagen.
(146)


Historisch betrachtet greift Kreses Handlung allerdings wesentlich breiter, tiefer und weiter; geht zeitlich an Orte und Momente, die Zupan nicht behandelt hat, während dieser sich im präziseren Detail auf andere Schwerpunkte konzentriert.

Individuelle Mentalitäten, das Sprechen mit versteckten Botschaften; der Druck, diejenigen Wahrheiten, die nicht gesagt werden dürfen, vor den eigenen Kindern zu verbergen, während diese heranwachsen und immer auffassungsfähiger werden – all diese Facetten werden von Krese thematisiert, mit einer Gefühlsfeinheit und emotionalen Authentizität ausgeführt.

Deutlich hat sie in „Trotz alledem“ niedergeschrieben, was es bedeutet, Soldatin im Partisanenkrieg, danach Mutter und Frau im jugoslawischen Sozialismus – und stets denkender Teil einer für die eigene Freiheit kämpfenden Nation – zu sein.

Sich als Regierungsberater auf der höchsten Ebene einer Institution zu sehen, in der mensch sich zu beugen und zu verstecken hat – zeitgleich den Widerstand und die Selbstverständlichkeit der persönlichen Aussprache an den eigenen Kindern mit Nervosität verfolgend.


Maruša Kreses Roman „Trotz alledem“ endet im Jahr 2012. Für einen Gesamtumfang von 256 Seiten empfand ich die Sprünge in Teilen enorm schnell.

Wie bereits bei Drago Jančars Roman „Als die Welt entstand, über Widersprüche der Gesellschaft im Maribor der 1950er Jahre, festgestellt – dies scheint ein prägendes Merkmal der slowenischen Literatur zu sein – obwohl die Handlung ihre Facetten im Abgang, in der Reflexion, im langsamen und bedachten Verzehr der Passagen und der Gedanken erschließen lässt und sich in ihrer Komplexität öffnet, ist hier zunächst an die introspektive, impressionistische Art des Schreibens mit Sorgfalt heranzugehen.

Eben nach einer reflexiven Stunde im Anschluss zur Lektüre fällt mehrwerdend auf, wie die Herangehensweise die für Kreses persönliche Erfahrungswerte ungemein authentische Realität widerspiegelt: selbstverständlich erscheint es Individuen, die einen grausamen Krieg durchlebt haben, sich in politischen Umbruchszeiten über Wasser halten müssen und ständig Sorge um ihre jungen Kinder haben, denen die Feinheiten des Sagendürfens noch nicht klar sind, dass die Zeit in Bruchstücken verfliegt und nur Teile davon mit Anstrengung festzuhalten sind.


Und doch, so hart dieser literarische Tobak zu rezipieren und zu lesen ist, so wichtig „Trotz alledem“ als Buch und als fiktionalisierter, doch authentischer Zeitzeuge verleibt – wäre eine etwas umfassendere Behandlung der Hintergrundsysteme desjenigen willkommen gewesen, was diese aufwühlenden Menschenleben bewegt, warum in Slowenien dies und jenes geschieht et cetera.

Zur Hilfe kommen zum Schluss der Lektüre ein Nachwort mit vielen Informationen aus dem Leben und Umfeld der Autorin sowie Fragmente aus ihren Gedichten.

Diese hätte ich mir vor dem Romantext gewünscht.

Argumentativ handelt es sich hierbei allerdings um Meckern auf hohem Niveau, da die Informationen im Nachgang erfasst werden können und das aus der Handlung erhaltene schließlich gut ergänzen.


Maruša Kreses Roman „Trotz alledem“ ist ein maßgeblicher Zeitzeuge in puncto slowenische Geschichte, eine scharfsinnige figurenpsychologische Obduktion des weiblichen und männlichen Leidens zu Kriegszeiten – und eine spannende Geschichte über menschliche Resilienz in einem von Umbrüchen und Unruhe geprägten europäischen Land im 20. Jahrhundert.

Wer sich auch im geringsten Sinne für europäische Geschichte interessiert und etwas impressionistisch angehauchten Kompositionen und Perspektiven in einem Buch nicht abgeneigt ist, wird hier eine fesselnde Leseerfahrung vorfinden.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Trotz alledem
Originaltitel: Da me je strah?
Autor*in: Maruša Krese
Übs.*in: von Liza Linde

256 Seiten | 22,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 27.09.2023
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397509-3

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