Olga Ravns Roman „Die Angestellten. Ein Roman über Arbeit im 22. Jahrhundert“ obduziert mit einem analytischen – und doch äußerst gefühlsintensiven – Blick Zukunftsperspektiven, die so düster wie realistisch ausfallen. Aus Zeug*innenberichten menschlicher und humanoider Angestellter eines Raumschiffs erstellt Ravn eine erschreckende und scharfsinnige Collage dessen, was in der Zukunft als menschlich gelten könnte – und wie unmenschlich Menschlichkeit sein kann.

Die dänische Lyrikerin, Literaturkritikerin, Lektorin und Übersetzerin Olga Ravn schreibt in ihrem ersten Roman „Die Angestellten Ein Roman über Arbeit im 22. Jahrhundert“, aus dem Dänischen übersetzt von Alexander Sitzmann, durchaus darüber, was Arbeit und die Position eines Angestellten in sozialen und psychologischen Konstellationen bedeuten und sein können.
Doch ist in diesem düster-humoristischen schlanken Roman einiges mehr an universalhumanen Wahrheiten versteckt – so wenige menschliche Figuren in der Geschichte auch vorkommen.
Die Handlung spielt in einem Raumschiff und wird von namenlosen Angestellten erzählt – die Passagen werden lediglich als beispielsweise „Zeugenaussage 021“ betitelt. Aus kurzen Kapiteln, je Angestellter ein Bericht, wird eine für die Mission und das Schicksal des Raumschiffs und seiner Bewohnenden maßgebliche Episode skizziert.
Einige der Angestellten sind mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Maschinen, einige aber Menschen, mit gewissen „Verbesserungen“ und „Ergänzungen“, „Updates“, ausgestattet.
Wohl gemerkt eint die Figuren dennoch ein im allgemeingesellschaftlichen als menschlich geltendes Motiv: der kollektive Erfolg, ein harmonisches Leben auf dem Raumschiff. Doch wird dieses durch diverse Diskrepanzen verhindert – beispielsweise erfahren Lesende am Rande, dass viele Kinder gestorben sind. Nun vertrösten die Eltern sich mit Hologrammen derselben.
Nicht immer ein emotionale Stabilität sicherndes Konzept.
„Ich bin wie einer von diesen Gegenständen.
Ihr habt mich erschaffen, habt mir Sprache gegeben,
und jetzt sehe ich eure Fehler und Mängel.
Ich sehe eure unzulänglichen Pläne.“(18)
Im Laufe der Geschichte wird eine entstehende Zäsur bemerkbar: die Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen verändern sich nach und nach. Während jede*r Angestellte*r sich in der Reflexion zu den Bedingungen und der Arbeitsmoral auf dem Schiff Gedanken macht, finden auch Gedanken zur eigenen Konstitution ihren Weg in die Kapitel.
Wohl die eine Gemeinsamkeit der menschlichen Angestellten und derjenigen, die nicht aus „Biomaterial“ bestehen, ist es, sich über die eigene Menschlichkeit Gedanken zu machen. Diesen Themenkomplex stellt Ravn neben die Frage der Effizienz und Nützlichkeit, da die humanoiden Angestellten sich mit ihrer Funktion identifizieren, die Menschen sich jedoch zunehmend auf die Erde zurücksehnen.
Sosehr Maschine Mensch sein möchte, Emotionen empfinden möchte, nach authentischer Gefühlswelten strebt – umso mehr ist klar, dass „echte“ Menschen für das Raumschiff auf lange Sicht kaum von Nutzen sein werden.
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Dass das Raumschiff ein grausames Schicksal erleidet, welches menschliche Lesende sicherlich mit Schauergefühlen erfüllen wird, scheint unumgehbar. Und doch scheinen gewisse Spuren von imitierter Menschlichkeit sich dem Vollzug des sich andeutenden Ausgangs in den Weg zu stellen.
Eine Faszination, die in ihrer Widersprüchlichkeit fesselt und trotz knapper Ausführung eine beeindruckende emotionale Wucht besitzt.
„Wie soll man ohne Arbeit und ohne seine Kollegen klarkommen?
Würde man dann einfach im Schrank stehen?
Ich mag ihn gerne, meinen menschlichen Kollegen,
sein Interface ist beeindruckend.“(29)
Die Knappheit und Trockenheit der Aussagen, die sorgfältig formulierten kurzen Passagen sind ungemein wirksam. Die Intensität der lakonisch formulierten Gedanken der Figuren reiht sich Stück für Stück aneinander, es entsteht ein groteskes Bild der maschinellen Überlegenheit, ein Blick auf die Menschen als unstabile, niedliche, nutzlose Tierchen – ein Stück voller reflexiver Bitterkeit und Grusel.
Ist das unsere Zukunft?
In gleichen Maßen wünschen die menschlichen Angestellten sich, den Maschinen annähern zu können, um die erlebten Traumata besser verkraften zu können – zwar wird das Hintergrundsystem des Raumschiffs nur in so vielen Worten geschildert, doch ist klar, dass es zahlreiche Verluste und Opfer gegeben hat.
Zeitgleich versuchen die humanoiden Angestellten, Empathie und Verständnis für ihre menschlichen Kollegen aufzubringen, humane Prozesse zu imitieren, ein kollegiales Miteinander zu kultivieren.
Dies gelingt aus offensichtlichen – und aus unerwarteten – Gründen nicht.
„Wir verstehen den Tod nicht richtig,
da wir nicht zerstört werden können
und uns immer wieder regenerieren.“(101)
Ohne den Ausgang der Handlung verraten zu wollen, möchte ich an dieser Stelle noch auf Martina Clavadetschers Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ hinweisen, in dem Menschlichkeit und Künstlichkeit zwar mit stark divergierender Komposition, doch in ähnlich analytisch angehauchter Gefühlsintensität unter die Lupe genommen wird.
Obwohl Clavadetschers Geschichte eine feministische Perspektive zugrunde liegt und beispielsweise eine Figur eine Sexpuppe ist – Erotik und Vergnügen sind auf dem Raumschiff vergleichsweise nicht einprogrammiert –, werden auch in diesem Roman die hauchdünnen Trennlinien zwischen künstlichen und menschlichen Emotionen sowie von sozialen Konventionen genormte maschinelle Verhaltensmuster analysiert, die auf dem Arbeitsplatz teilweise als wünschenswert, teilweise als obligatorisch gelten. Wie bei Clavadetscher, so auch bei Ravn.
Der diskursive Kern von Ravns Roman liegt in den von ihr dargelegten Extremen, der durchaus realistischen Perspektive einen humanoiden Kollegen neben sich stehen zu haben – was dies mit dem Selbstwertgefühl von „Biomaterie“, einem Menschen, ausrichten kann, welche fatalen Zäsuren es auf dem Arbeitsmarkt einführen könnte, und warum Menschen gezwungen sein könnten, zukünftig in einem Raumschiff von ihrem Heimatplaneten zu fliehen oder sich für die Teilnahme an einem Testprojekt bereit erklären, welches für sie verheerende Konsequenzen hätte?
So viel Empathie für die einzelnen Angestellten zum Schluss im Raum steht – auf makabre Art und Weise erzeugt Ravn dieses, auch für Maschinen –, so unheimlich ist die Möglichkeit der Realität von „Die Angestellten“.
Doch nicht nur, weil bei der Lektüre eine unvergleichbare Atmosphäre von Einsamkeit, Traurigkeit und einer kontrastierenden Funktionalität entsteht, sobald die Kapitel-Stückchen zu narrativen Bildern werden, ist dieses Buch so einzigartig.
Gerade weil die Reflexion dieser futuristisch-elegischen Collage so ungemütlich ausfällt, möchte ich Olga Ravns Romandebüt wärmstens empfehlen – Sci-Fi-Fans und Romanliebenden mit gleichem Nachdruck.
Bibliografie:
Titel: Die Angestellten
Originaltitel: De ansatte
Autor*in: Olga Ravn
Übs.*in: Alexander Sitzmann
143 Seiten | 20,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 2022
Verlag: März
ISBN: 978-3-7550-0009-9
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Eine schöne Rezension, liebe Sandra. Ich habe „Die Angestellten“ bereits vor einem Jahr gelesen und habe den Inhalt ähnlich empfunden. Obwohl sehr schmal, bietet das Buch reichhaltige Eindrücke von dem Leben in einer (fiktiven) Zukunft.
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Vielen Dank, liebe Anna! Eine ganz entscheidende Facette, für diejenigen, die das Buch gelesen haben, war für mich noch die alle Figuren vereinende Traurigkeit und Einsamkeit. Dass eine Autorin in einem Debüt eine solche emotionale Kraft in einem doch recht ungewöhnlichen Text durchgängig einweben kann, fand ich unglaublich faszinierend. Da ich nicht unbedingt das typische Sci-Fi-Publikum bin, war ich beim Klappentext schon erstmal in abwartender Haltung 😂
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