Caleb Azumah Nelsons neuester Roman „Den Sommer im Ohr“ ist eine gefühlvolle Geschichte über Liebe, Freiheit, Trauer und Selbstsuche. Wie bereits in seinem Debütroman „Freischwimmen“ ertastet Azumah Nelson auch in dieser Geschichte ein Gleichgewicht zwischen Klischee und Authentizität, ersucht die richtigen Töne in puncto Sensibilität sowie Sachlichkeit.
Von Himmel bis Hölle, von Extase bis Erlösung reichen die tiefsten Kontraste seiner intensiven Erzählwelt: Azumah Nelson stellt die pulsierende Lebenskraft der Jazzmusik neben den gnadenlosen Metronom des Todes.
Beherrscht der Autor das Instrument des Erzählens auch durch sein eklektisch anmutendes Stück hinweg?
Der britisch-ghanaische Schriftsteller und Fotograf Caleb Azumah Nelson hatte sich mit seinen in diversen Literaturmagazinen erschienenen Kurzgeschichten bereits einen Namen gemacht, zudem erlang der Debütroman „Freischwimmen“, eine außerordentliche Liebesgeschichte, auf der internationalen literarischen Landschaft Anerkennung.
Nun legt Azumah Nelson mit seinem zweiten Roman, „Den Sommer im Ohr“, übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner, nach – und das Ergebnis kann sich sehen – und hören – lassen.
Der Protagonist Stephen lebt und atmet Musik. Sein junger, unruhiger, lebenslustiger Körper – und sein entdeckungsfreudiger Geist – fühlen sich wohl inmitten von Bässen und Rhythmen, sein Herz schlägt im Takt des Jazz. Die Seele kann Stephens am freiesten baumeln lassen, sobald die Trompete seine Lippen berührt.
„Klang hilft uns, unseren Gefühlen näherzukommen.
[…]
Klang, vor allem Jazz, lässt nicht nur Raum für Fehler,
diese Fehler können auch etwas Schönes sein.„(145)
Es ist so schön und einzigartig, dieses Gefühl der Freiheit, welches sich in der rhythmischen Bewegung, der gemeinsamen Atmung, der Berührung von Körpern verbirgt – und eine spirituelle Verbindung zu anderen herstellt, die die gleichen Klänge hören, erfahren und genießen.
Doch so voller Liebe und Erfüllung der Sommer auch gewesen ist, endet die Kindheit, und Stephen muss sich von seinen Freunden, seiner Liebe, seiner Freiheit trennen, um einen beruflichen Pfad einzuschlagen. Dazu kommt die schwierige Beziehung zu seinen Eltern.
So leicht es war, die Klänge des Sommers in sich zu tragen – so schnell scheint die innere Musik für Stephen auch verloren zu sein, sobald er zwischen die Zahnräder der Realität gerät.
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Es beginnt ein Tanz, der gleichzeitig ein Kampf ist – nicht nur derjenige Kampf, den Stephen mit sich selbst zu bestreiten hat, nachdem er gemerkt hat, dass der eingeschlagene Weg ihn nicht auf einen Pfad gebracht hat, der zur Erfüllung und zum Lebensglück führt.
Nein, nicht nur das: Stephens Familie kommt aus Ghana und als Schwarze Personen erfährt jedes Familienmitglied Alltagsrassismus auf unterschiedliche Art und Weise. So plötzlich wie ein schöner Moment beginnen kann – so abrupt enden auch die Leben allernächster Verwandter, so unvermittelt werden Menschenrechte übergangen.
Einerseits steht Stephens Generation so wie die seiner Eltern – so zeigt es jede Reise zurück nach Ghana klar und deutlich – zwischen Ideal und Realität, zwischen einem unwahren Traum und einem unerfüllbaren Versprechen, wie etwa in „Unser Deutschlandmärchen“ oder „Dschinns“ beschrieben: irgendwo zwischen dem sich-überall-fremd-fühlen, nirgendwo-ein-Zuhause-haben, eine gefestigte Position nur schauspielernd, sowohl im Herkunfts- als auch im Lebensland.
Doch darüber hinaus dürfen sie auch nie vergessen, dass ihre Leben von der weißen Gesellschaft als wertlos, minderwertig, Gewalt verdienend, betrachtet werden.
„Und bei diesem Einsatz wurde er erschossen.
Vom Polizeiapparat verschluckt.
Seine Angehörigen hat niemand informiert.“(151)
Azumah Nelson besitzt ein beeindruckendes Talent – welches zwar bereits im Debüt zu erkennen war, nun aber im zweiten Roman deutlich geschliffener hervortritt – dafür, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen Tragik und Trauer, gebrochenen Herzen und idealisierten Träumen, und zu keinster Stelle irgendwie ins Melodramatische oder Übertriebene auszuufern.
Auch im Sprachlichen funktioniert Azumah Nelsons Methodik, weil er stringent und konsequent bleibt. Beispielsweise dass er bestimmte Sätze und Formulierungen eins zu eins und wiederholt, wenn Sohn, Mutter und Vater über ihr Lebensgefühl, ihre Müdigkeit, ihren Hunger sprechen – obwohl alle Figuren sich in den respektiven Momenten auf vollständig unterschiedliche Dinge beziehen – verleiht dem Text eine besondere musikalische Komponente, als ob diejenigen Personen dieselbe Platte hören und zum selben Lied den Refrain mitsingen würden – was im Laufe des Romans ebenso geschieht.
Denn vieles wiederholt sich im Leben, insbesondere im Leben zwischen den Generationen einer Familie.
Diesem Buch wohnen Romantik und Intellekt inne. Beides nicht zu übersehen. Der Roman wird – abseits der zahlreichen musikalischen Hinweise, die den offensichtlichen Soundtrack des Romans ausmachen – wie von einer leisen Melodie begleitet, einer scheinbar träumerisch-leichten, beim genaueren Hinhören allerdings sehr fein gewobenen und schwer zu imitierenden obwohl so organisch klingenden Tonfolge.
Stephens Emanzipation führt zwar über zahlreiche wacklige Brücken und lässt in tiefe Schluchten blicken – doch finden Reflexionen übers Kindsein, Mannsein, Sohnsein, Vatersein sowie Gedanken über die Natur von Musik, die uns überall begleitet, in diese Szenen und schmücken sie auf eine tröstende, kluge, dimensionierte Art und Weise aus, sodass auch das Triste mit Nuancen bereichert und ästhetisch interessant gestaltet wird.
„Und als dann wieder eine kleine Welle kommt,
[…]
höre ich einen Geist flüstern,
nicht Leb wohl, sondern Bis dann.“(233)
An zahlreichen Stellen können Fans von Azumah Nelson sich über die Rückkehr zu „Freischwimmen“ freuen – im wahrsten Sinne des Wortes, ans Meer, wo Stephen schon mit seinen Freunden in der Zeit der Freiheit und der sorglosen Sommer gemeinsam Biere getrunken und Musik gehört hat. Immer wieder führt es ihn zurück ans Wasser. In den Wellen findet er nicht nur ein Gefühl von Trost und Freiheit, sondern die Kraft, loszulassen und Elemente seiner Trauer intuitiv zu verarbeiten.
Für Fans von gefühlvoller anmutenden Texten, Jazz- und Blues-Kenner*innen – und diejenigen Lesenden, die die feine Verliebtheit in „Freischwimmen“ genossen haben, liegt hier also eine definitive Leseempfehlung vor.
Meine einzige Kritik an diesem Buch ist die in meinen Augen etwas verfehlte optimale Veröffentlichungszeit, denn dieser Roman verdient einen warm-weichen Frühsommertag, eine Lektüre im Garten oder auf der Terrasse, am Strand oder an einem anderen ruhigen Ort im Außenbereich.
Glücklicherweise können Lesende dem Titel ab sofort gerecht werden und das Buch mit Lieblingsmusik in der Sonne – oder wahlweise mit Blick auf einen Sonnentag – schmökern. 😉

Bibliografie
Titel: Den Sommer im Ohr
Autor*in: Caleb Azumah Nelson
304 Seiten | 24,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 25.04.2024
Verlag: Kampa
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