Buchtipps und Leseempfehlungen: Literarische Lebenshighlights, 1

Das unermüdliche Laufband der literarischen Novitätenfabrik bewegt sich immer schneller – während die kollektive sowie individuelle Aufmerksamkeitsspanne für das Buch an sich knapper und knapper wird.

Oft dreht es sich lediglich vorab bis zum Veröffentlichungstag um eine Neuerscheinung – wer auf Instagram abseits der Schwarmrezensionen, am nächsten Tag oder gar im Folgemonat die Besprechung vorlegt, bleibt in vielen Fällen schon außen vor.

Dieser Tendenz möchte ich mit einer nachhaltigen Reihe entgegenwirken: Literarische Lebenshighlights. Es werden Bücher besprochen, deren Lektüre weiter entfernt liegt, die mehrere Härteproben bestanden haben, in meinem Regal geblieben sind und mich immer wieder zur Reflexion bewegen. Die ausführliche Besprechung aller Highlights findest Du auf meinem YouTube-Kanal.


Gregory David Roberts: „Shantaram“


Gregory David Roberts wurde 1952 in Melbourne geboren. Er wurde wegen mehrerer bewaffneten Raubüberfälle zu einer 19-jährigen Haftstrafe verurteilt. Roberts ist jedoch geflohen und hat sich im damaligen Bombay niedergelassen – wo seine Kontakte zur lokalen Mafia aber zur erneuten Festnahme führten.

Im Anschluss wurde Roberts nach Australien zurückgeschickt, wo er weitere sechs Jahre im Gefängnis verbrachte – in dieser Zeit begann Roberts, „Shantaram“ zu schreiben.

Insgesamt dauerte es allerdings dreizehn Jahre, den Roman zu vollenden – unter anderem, weil seine Gefängniswärter die ersten zwei Manuskripte zerstörten. Roberts beschreibt im Dankeswort, wie die Manuskriptseiten mit Blut und Dreck beschmiert worden sind, welche Resilienz er vorweisen musste, um das Projekt überhaupt abschließen zu können.

Nicht nur die fesselnde und authentische Erzählwelt überzeugt, die mit einem Reichtum an Figuren, Farben und Nuancen bestückt ist – sondern auch die Intensität und Dynamik der Ereignisse, Konflikte und schweren Verluste, der Hindernisse und Schmerzen, die Lin auf seiner Lebensreise erlebt und überwindet, verarbeitet und erleidet.

Auf viele heftige Passagen müssen Lesende sich in diesem üppigen Roman gefasst machen – Szenen, in denen das Tier im Menschen zum Vorschein kommt, in die Tod und Tragik eingewoben sind. Die der Erzählung zugrundeliegende buddhistische Philosophie bringt stets zur Geltung, dass Lin seinen Weg eigentlich dennoch von Anfang bis Ende alleine behauptet.

Mit Sicherheit lassen sich – wie Indien-Bücher es eben an sich haben – einige Romantisierungen und Klischees nicht vermeiden, doch zum Ausgleich und zur dynamischen Bereicherung der Erzähl- und Figurenkulisse sind diese Facetten und Szenen mehr als angemessen.


Sharon Dodua Otoo: „Adas Raum“


“Adas Raum” ist ein literarisches Experiment und eine spannende Perspektivenerweiterung. Das Buch nimmt Lesende mit auf eine Reise durch Zeiten, Kulturen und Biografien.

Der esoterisch angehauchte Roman demonstriert mittels ungewöhnlicher Perspektiven und unerwarteter Zusammenhänge, auf welche Art und Weise Menschenleben zueinander gebunden sind.

Ada erlebt die Ankunft der Portugiesen an der Goldküste des Landes, das einmal Ghana werden wird. Jahrhunderte später wird sie für sich und ihr Baby eine Wohnung in Berlin suchen. In einem Ausstellungskatalog fällt ihr Blick auf ein goldenes Armband, das sie durch die Zeiten und Wandlungen begleitet hat.

Ada begräbt im 15. Jahrhundert in Totope, Ghana, ihr neugeborenes Kind. Hat im 19. Jahrhundert in Stratford-le-Bow, England eine Affäre mit Charles Dickens. Erfährt vollständigen Verlust körperlicher Autonomie im Konzentrationslager Mittelbau-Dora am Kohnstein bei Nordhausen in 1945. Erlebt impliziten Rassismus in Berlin in 2019.

Ada verkörpert viele Frauen, viele Leben – sie ist Opfer, leistet Widerstand und kämpft für ihre Unabhängigkeit. Ada ist eine Vielzahl, eine Mehrheit, unterschiedliche Personen – in einer Entität Frau ineinander vereint. Ihre Qualen, ihre Unterdrückung, Diskriminierung, fehlende Freiheit und notwendige Selbstopferung als Mutter, Ehefrau oder Tochter zeichnen ihre kollektive Identität aus. 

Nur im Romantitel, als Idee, als Utopie, hat Ada wirklich einen Raum, den sie tatsächlich besitzt – in keiner ihrer Leben wird ihr ein solcher gewährt.

Als gelungen ist überdies die kritische Darstellung der Geschichtsverzerrung und -Leugnung hervorzuheben. Die Erzählperspektive wird nämlich von diversen personifizierten Objekten übernommen. Zudem haben die Objekte scheinbar ein höheres Bewusstsein – der Geist oder das Wesen, welches sich in ihnen befindet, reist problemlos durch die Jahrhunderte, verhandelt mit Gott, welches Ding es als nächstes sein soll, und ist in voller Kenntnis von der Bindung zwischen den Adas.

„Adas Raum“ ist ein schwieriges, faszinierendes und konventionelle Grenzen mühelos dekonstruierendes Buch, welches mich enorm bereichert hat und bei der zweiten Lektüre mir Sicherheit weiterhin bereichern wird.


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Fatma Aydemir: „Dschinns“


„Dschinns“ handelt von einer sechsköpfigen Familie mit kurdischen Wurzeln, deren Familienvater als Gastarbeiter in den 1960er Jahren mit einem Traum nach Deutschland gekommen ist.

So erfahren Lesende im ersten Kapitel, wie Hüseyin sich nach dreißig Jahren als Gastarbeiter in Deutschland endlich eine Wohnung in Istanbul kaufen konnte und sich nun dort in Erwartung seiner Familie auf den Ausklang seiner Lebensjahre freut.

Hüseyin ist bereits dabei, sich die schönen Stunden mit seinen Kindern und seiner geliebten Ehefrau im geistigen Auge zurecht zu legen – als er plötzlich ein furchterregendes Geschöpf erhascht.

Nur für einen Moment spürt Hüseyin den Dschinn in seiner Gegenwart – und schon hat er seinen letzten Atemzug auf dieser Erde genommen.

Eilig machen sich seine Ehefrau und vier Kinder auf den Weg aus Deutschland nach Istanbul – denn der Brauch besagt eine Beerdigung am Folgetag. Warum schaffen es jedoch nur einige der Geschwister zur Beerdigung? Wer sollte eigentlich noch vor Ort sein – und wer wird zum Ende der Handlung immer noch vermisst? Was waren Hüseyins letzte Worte und warum kann nur eine Person sie richtig deuten?

All dies wird nach und nach offenbart, denn der Roman ist nach Person in Kapiteln geteilt und befasst sich in einem sehr gut gehaltenen Tempo mit der Individuell- und Gesamtbagage der in Einzelteile zerfallenen Familie.

Als Hüseyins Witwe und ihre vier Kinder sich zur Beerdigung beisammen finden, werden nach und nach ihre Perspektiven und Positionen zu den Eltern, zum Lebenstraum des Vaters und zu den eigenen Zielen ausgeführt – die in großen Teilen nichts mit ihrer Familie zu tun haben.

Fast wie am Rande dieser emotional bereits unglaublich komplexen Geschichte, in die bereits so viele faszinierende Facetten der Familiengeschichte eingepackt worden sind, treten diverse Arten der Ausländerfeindlichkeit, mit der die Eltern selbst und die Kinder einzeln und gemeinsam konfrontiert werden – sowohl die Realisierung ihrer eigenen Machtlosigkeit als auch die Scham des Vaters über seine fehlende Autorität innerhalb des Landes, deren Sprache er selbst nicht spricht, sind herzzerreißend.

„Dschinns“ ist ein meistervoll komponierter multiperspektivischer Gesellschafts- und Familienroman über Heimat und Vergangenheit, Schuld und Sühne, Liebe und Vergebung – und tiefste innere Dunkelheiten.


Ryūnosuke Akutagawa: „Rashomon. Erzählungen“


Ryūnosuke Akutagawa gehört zu den Klassikern der modernen japanischen Literatur. Akutagawa wird als der Vater der japanischen Kurzgeschichte bezeichnet, auch der wichtigste Literaturpreis des Landes ist nach ihm benannt.

Die für japanische Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus unkonventionelle Kombination aus ästhetischen Idyllen und sofortiger Verstörung dieser Momente, düsteren Beschreibungen geistiger Imbalance, die mit Nihilismus gemischten kritischen Gesellschaftsspiegelungen und Verarbeitung kollektiver historischer Traumata durch Bearbeitung älterer Materialien ließ den Autor zunächst auf Widerstand und Kritik seiner Zeitgenossen stoßen. Dennoch kam der Erfolg bereits mit seinen ersten Kurzgeschichten.

Der Erzählband beginnt mit der Titelerzählung „Rashomon“, die mit „Im Dickicht“ kombinatorische Inspiration für den gleichnamigen Kultfilm darbot. Die Geschichte beschreibt den Widerspruch von verankerten Konventionen wie das starke Ehrengefühl der japanischen Gesellschaft und die gleichzeitige moralische und wirtschaftliche Verwüstung. Im prasselnden Regen sucht ein arbeitsloser Mann nach Unterschlupf an einem zerfallenen Tor, dem Rashomon – in einer zerfallenen Straße, einer zerstörten Stadt. Seine Situation scheint hoffnungslos zu sein, der unmittelbare Hungertod unvermeidbar. Eine unerwartete Begegnung rettet den Mann zeitgleich aus seiner Situation – und stürzt ihn in einen moralischen Abgrund.

Ebenso reflektiert der Autor an vielen Stellen über das Literatentum, den sentimentalen sowie den kulturellen Wert eines Kunstwerkes und die erheblichen Opfer, die ein Schaffender bringen muss. Die Zensur und kulturelle Züchtigung thematisiert er beizeiten an mehreren Stellen, zahlreiche seiner Protagonisten sind Künstler oder Literaten. So spricht eine nahe an Akutagawa anlehnende Figur über die gefährliche Position eines Autors.

Verehrer der japanischen Kultur und Literatur werden in diesem Erzählband ein multifacettiertes Juwel vorfinden, in welches es sich mit Sicherheit lohnt, zu vertiefen. Doch kann „Rashomon“ nicht in einem Zug oder in einer Woche verschluckt werden – eine langatmigere Lektüre in mehreren Schritten lohnt sich eher.


Auf meinem YouTube-Kanal bespreche ich nicht nur die hier aufgelisteten Bücher ausführlich und erörtere ihre persönliche Bedeutung für mich, sondern stelle weitere literarische Lebenshighlights vor.

Ich freue mich sehr auf Deinen Besuch auf dem Kanal und alle Gedanken zu den besprochenen Büchern.


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