Die Uhr wird schlagen. Karl Ove Knausgård: „Die Schule der Nacht“

In seinem neuesten Roman „Die Schule der Nacht“ steigt der norwegische Starautor Karl Ove Knausgård ab in tiefste Schluchten menschlicher Abgründe. Das düstere Buch handelt von Tod und Vergänglichkeit, Kunst und Wahrheit, Moral und Vernunft, Gut und Böse.

Nebst anderer großer Fragen der Conditio humana stellt „Die Schule der Nacht“ jedoch auch ein extensives kritisches Register zeitgenössischer Schallplatten zur Verfügung.

Knausgård’sche Erzählwelten vom Feinsten eben.


„Die Schule der Nacht“ beginnt am Ende der Handlung, auf einer winzigen Insel vor der norwegischen Küste.

Der Protagonist Kristian Hadeland blickt als außergewöhnlich erfolgreicher Fotograf zurück auf eine Dekaden umspannende, beneidenswerte Karriere. Als Künstler hat er präzedenzlose Bekanntheit genossen und in engen und breiten Kreisen für Unruhe und Aufruhr gesorgt. Doch nun hat Kristian sich in die Abgeschiedenheit zurückgezogen – und will seinem Leben ein Ende setzen.

Auch in diesen letzten Momenten seines Lebens sieht er seinem Schicksal mit einer augenscheinlich vollkommenen Ruhe und reflexiver Sachlichkeit entgegen:


Es gibt keinen Grund,
sich vor dem Tod zu fürchten –

wenn es dich gibt,
gibt es ihn nicht,
und wenn es ihn gibt,
gibt es dich nicht.
(11)


Tod und Vergänglichkeit waren die großen Themen seines fotografischen Werks, mit dem Kristian sich über sämtliche Regeln hinwegsetzte und in der Kunstwelt Wellen schlug.

Doch ehe Lesende erfahren, wie es zu diesem unglaublichen Erfolg kam und welchen Preis Kristian für seinen Ruhm zahlen musste, begeben wir uns zurück an den Beginn seines Studiums in London, betrachten seine Entwicklung, den Höhenflug seiner Kreativität, das jegliche moralische Grenzen missachtende Vorgehen für das perfekte Foto –

– und erkennen voller entsetzen, dass wir auch wenn nur in Teilen, dann dennoch mitfiebern, während Kristians Kunst mit weiteren Tabus bricht und Kristian selbst sich seiner Seele entmächtigt.


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Der subtile Aufbau leserseitiger Empathie mit einer objektiv betrachtet offensichtlich unsympathischen Figur verläuft parallel mit einem ebenso gekonnt gesetzten Spannungsbogen – selten bin ich einem Autor begegnet, der moralische Ambivalenz und hohe emotionale Kontraste so gut nivellieren kann wie Karl Ove Knausgård.

Was ist das Geheimnis von Kristian?

Oder, besser gesagt, das Geheimnis von Karl Ove?


Er hatte keine Kanten,

deswegen kam er niemals

richtig in Kontakt mit etwas […].(47)


Wie in den zahlreichen Romanen von Knausgård, die ich bisher das Vergnügen – und teils die Qual – hatte, zu lesen und zu analysieren, begegnen wir hier jemandem, der ohne Filter, Schnörkel und Weichzeichner gezeigt wird. Im Gegenteil zu seinem von Kristian selbst im obigen Zitat als rund bezeichneten Schwager, hat Kristian zahlreiche Ecken und Kanten, die wir als Lesende ausnahmslos betrachten können.

Vielmehr sind wir ihnen sogar ausgeliefert – es ist irgendwann an keinster Stelle zu übersehen, was für ein egozentrisches Protagonistenarschloch Kristian doch eigentlich ist.*

Und obwohl wir dieses Wissen in aller Deutlichkeit übermittelt bekommen, steht uns als Lesende mit derselben Deutlichkeit die Tatsache vor Augen, dass genau diese menschliche Ambivalenz ihn als Künstler so interessant macht – und dass es eventuell nun auch erlaubt ist, seinen Verfall zu wünschen. Eine Figur, die zunächst als Genie, als kompromisslos seiner Kunst gewidmetes Individuum und somit vielleicht als Held gefeiert werden könnte, stellt sich als im Schafspelz verkleideter Unhold heraus.


Und doch ist Kristian genauso ahnungslos wie der Lesende, und versucht zu erfahren, was eigentlich mit ihm und um ihn geschieht – den hinter den Kulissen bewegen sich höhere Mächte, als von Menschenhand gesteuert werden könnten.

Argumentativ hat Kristian den moralisch bedenklichen Höhepunkt seines Gottkomplexes bereits erreicht, als er stundenlang eine Katze kocht, um das perfekte Foto von dieser zu schießen.

Doch dann führt ein Konflikt mit einer obdachlosen Person zur menschlichen Fatalität – und anstatt Reue zu zeigen, instrumentalisiert Kristian seine Erfahrungen für seine Kunst und sieht sich und seine Fotos als Retter der Armen, mit Kamera auf heiliger Mission:


Diese Leute leben und sterben im Schatten.
Keiner sieht sie, wenn sie […] sterben.

Aber ein Mord ist wie ein Licht.
Da werden sie gesehen.
(324)


Kristian als Figur jenseits von Gut und Böse ist eine faszinierende Idee, die von Knausgård schon sehr gelungen ausgeführt wird. Doch die rein eigensüchtige Motivation eines einzelnen Mannes macht den Zauber der „Schule der Nacht“ nicht aus – es sind die mystischen Facetten, die spekulativen Bindungen zum Okkulten, welche auch in Kristian Angst und Unbehagen auslösen.

Natürlich möchten auch Lesende wissen, wer diese geheimnisvollen Individuen sind, die Kristian – ganz zufällig – in einer Kneipe ansprechen und ihn – total willkürlich – bei seiner künstlerischen Entwicklung vorantreiben; die Theaterstücke über teuflische Vereinbarungen inszenieren, aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen und ein verdächtig detailliertes Wissen über die Geschichte des Okkulten in London zu besitzen scheinen.

Spoiler: Es gibt keine Zufälle in diesem Buch. Lesende mögen Seite eins sehr aufmerksam lesen.


Um kurz zu den Stichpunkten ‚Qual‘ und ‚objektiv‘ zurückzukommen: Knausgård hat die Tendenz, in analytischen Exkursen, essayistischen Ausschweifungen und literarisch ausgeschmückten Fußnoten – die in seinen Werken aber keine Fußnoten sind – vollständig von der Haupthandlung abzulenken, in manchen Werken gar erst zum Schluss dazu zurückzukommen, was eigentlich mit dem Protagonisten geschehen ist, in den frau schon nach Seite zwanzig emotional investiert war.

In manchen seiner Romane ist diese Methode für so manch einen Lesenden eine argumentative Qual: das ‚Füllmaterial‘ ist zwar meist auch alleinstehend sehr interessant und besteht oft aus literaturkritischen Ausschweifungen, die für mich persönlich als ehemalige Literaturwissenschaftlerin hochgradig spannend sind. Aber auch wenn nur als Häppchen verzehrt, möchte frau sich nun doch auch voran bewegen im literarischen Menü.

In „Die Schule der Nacht“ werden Kristians kritische Auseinandersetzungen mit der Musik als Dilettant und mit der Fotografie als werdender Meister allerdings perfekt in die Handlung eingewoben – einerseits schaffen sie eine unglaublich reichhaltige Erzählkulisse, die intellektuell sehr gewinnbringend ist; andererseits balancieren sie die emotional schwerwiegenden Ereignisse mit einer trockenen Sachlichkeit aus, sodass das Buch als Ganzes eine außergewöhnliche Ausgewogenheit erreicht.

Kurz: aus jeder Perspektive betrachtet ein literarisches Meisterwerk.


Für diejenigen, die sich überlegen, ob der Roman überhaupt als Einzelgänger gelesen werden kann: keine Sorge. „Die Schule der Nacht“ ist zwar ein Teil der Morgenstern-Serie, fungiert jedoch als selbstständige, abgeschlossene Geschichte.

Ausgangspunkt der Reihe ist das plötzliche Erscheinen eines neuen Sterns am Himmel, der unheimliche Kräfte freisetzt, sämtliche physikalische Regeln sprengt und die Menschen auf ihr Innerstes zurückwirft. Aufgrund diesen mystischen Entwicklungen wurden vermutlich auch diejenigen teuflischen Mächte freigesetzt, die Kristian zu seinem Erfolg verhelfen und seinen Untergang bedingen. Doch kann „Die Schule der Nacht“ auch ohne den vorangehenden Morgenstern-Rahmen in vollen Zügen genossen werden.

Für mich war „Die Schule der Nacht“ das neunte Buch von Karl Ove Knausgård – und ganz klar der Höhepunkt seines bisherigen literarischen Schreibens. Auch wenn ich den Großteil vorangehender Romane stets als kompositorisch beeindruckend, intellektuell herausfordernd, psychologisch verstörend, sprachlich hervorragend und grundsätzlich einzigartig beschreiben würde, erreicht keine literarische Erfahrung mit dem Autor diejenigen Höhen, die „Die Schule der Nacht“ beansprucht.

Meinerseits also eine uneingeschränkte Leseempfehlung.


* Umso interessanter fand ich das Nachwort dieses Romans, in dem Knausgård seinen Stoff mit dringlicher Deutlichkeit von der Realität trennt (und sich und seine Freunde vom Protagonisten) und auf das Licht hinweist, welches seine Familie ihn zuteil werden lässt; ein Licht, ohne welches er diesen sehr dunklen Roman womöglich nicht hätte schreiben können.

Bibliografie

Titel: Die Schule der Nacht
Autor*in: Karl Ove Knausgård

672 Seiten | 28,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 26.03.2025
Verlag: Luchterhand 

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1 Antwort

  1. Die Einschätzung unterschreibe ich vollumfänglich. Ich bin in seinem Schaffen über die „Morgenstern“-Reihe noch nicht herausgekommen – auch weil ich mich seinen Büchern nicht immer gewachsen fühle, so rein mental -, aber innerhalb dieser Reihe ist dieses Buch mit Abstand das Beste.

    Auch wenn sich mir – als nur halbstudierter Germanist – nicht alle Bestandteile des Romans erschlossen haben. Ich muss jetzt vermutlich doch nochmal Seite 1 lesen … 🙂

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    • Das kann ich sehr nachvollziehen. Ich empfand seine literarischen Ausschweifungen auch oft als äußerst speziell. Nachvollziehbar und subjektiv sind dann auch nochmal zwei Paar Schuhe. Was für mich hier auch unter anderem so gelungen ist, ist das Gleichgewicht von Reflexion und Handlung – ein schönes Ausmaß an Knausgard’scher Neurose und Zwanghaftigem Über-alles-nachdenken-müssen – hier eben in der Form „meine Plattensammlung muss perfekt geordnet sein“ und weitere –, wo in anderen Büchern die internen Essays die Handlung oft etwas übermannt haben (hust, letzter Teil der Autobiografie).
      Seite eins könnte eigentlich der Schlüssel für Kristian als Figur sein, und das finde ich sehr faszinierend. Ich habe mir viele andere Seitenzahlen dazu notiert, die den Gedanken an anderen Stellen in unterschiedlichen Konstellationen in seiner Entwicklungsgeschichte widerspiegeln.

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