Deutsche Autorin Jackie Thomae schreibt in ihrem Roman „Momente der Klarheit“ (2017) über diejenigen Augenblicke, in denen der Rückblickspiegel einer Beziehungsgeschichte endgültig zum Entschluss zwingt, sich aus dem Verkehrsfluss zu lösen und die nächste Ausfahrt zu nehmen. Das Buch ist kurz gesagt ein Trennungsroman vom Feinsten.
Obwohl die Lebensläufe und Freundeskreise ihrer Figuren auf die eine oder andere Art miteinander verbunden sind, gibt es keinen singulären und prominenten Erzählstrang in diesem Roman:
Die Erzählung schildert den Hintergrund und Bezug der jeweiligen Figuren zueinander zwar kurz, sie dreht sich jedoch ausschließlich um einzelne entscheidende Momente, die zur Trennung der Figuren führen und beitragen.
Es geht der Autorin immer wieder um den genauen Augenblick, in denen ihren Figuren der Schleier der Empathie, der Idealisierung, des Sich-etwas-vormachens und der Pheromone von den Augen fällt.
Ob Geschwister, Eltern und Kinder, Liebhaber, Eheleute, langjährige Paare oder Freunde – jeder hat mindestens eine Art der Trennung hinter sich, und so kann man sich problemlos in Thomaes Figuren hineinversetzen.
Die humorvolle Erzählung setzt sich aus zahlreichen Geschichten zusammen, die aus den jeweiligen Perspektiven der sich zur Trennung entscheidenden Parteien geschildert werden.
Die Beweggründe, die Offenbarungen und Erkenntnisse, die zum entscheidenden Punkt führen, werden je nach Akteur teils mit Entsetzen, teils lakonisch, teils durch neblige Tränenvorhänge dargestellt – und obwohl nicht alle von Thomaes Figuren zu Sympathieträgern werden, ist ihnen doch ein gewisses menschliches Element gemeinsam, dass den Realismus der Geschichte stärkt und eine durchgängige Spannung am Leben erhält.
Obwohl keine der Figuren als besonders einprägsam beschrieben werden kann, positioniert Thomae die einzelnen Spieler auf ihrem Minenfeld der Emotionsausbrüche sehr gekonnt, sodass durch ausgeprägte Charakter- und Situationskomik das Lesen nie langweilig wird – obwohl eigentlich klar ist, welcher Art die zentralen Ereignisse der Geschichte sein werden.
„Momente der Klarheit“ ist vor allem ein Roman für Leser mit Humor. Noch wichtiger ist jedoch, dass eine Autorin hier den Mut gefunden hat, die Nuancen der schwierigsten Entschlüsse im Leben einer Person zu untersuchen. Thomae gelingt es tatsächlich, in jede der Trennungsarten humorvolle Facetten einzubinden und diese in ihrem Roman so zu präsentieren, dass auch noch zerstörte Lebensentwürfe als inspirierend angesehen werden können.
Thomae gräbt aus den scheinbar unschönsten Momenten einer Beziehung den faktischen Krümel an Positivität heraus, der sowohl den Verlassenen als auch den Verlassenden über die Trennung hinwegbringen sollte: Die Erkenntnis der bedeutenden Rolle von Zuneigung, Liebe und Pflege der eigenen Seele und des eigenen Herzen.
Schließlich wird die wichtigste Beziehung im Leben, die auch jede andere Gefühlsgemeinschaft überstimmen sollte, mit sich selbst geführt – so einfach es auch ist, dieses Allgemeinwissen zu verlernen.
In diesem – gleichzeitig individuellen und doch zwischenmenschlich universalen – Moment der Klarheit liegt meines Erachtens der eigentliche Wert der ganzen Geschichte verborgen: Wahre Selbsterkenntnis im Angesicht der Befreiung des Individuums nach einer Trennung ist mehr wert als jedes halbe Kadaver einer mitgeschleppten Beziehung, in der sich beide Parteien nicht vollständig entfalten können.
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PS: Die Assoziation zur zynischen Perspektive von Marlene Steeruwitz zu misslungenen Lebensentwürfen, die durch Beziehungsversuche endgültig ruiniert werden, ist hier nicht zu übersehen. Mehr dazu:
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Foto: Hanser Literaturverlage
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