Der deutsch-hebräische Autor, Lyriker und Übersetzer Tomer Dotan-Dreyfus (* 1987) schreibt Poesie, Prosa und Rezensionen und übersetzt deutsche Literatur ins Hebräische. Zuletzt erschien seine Lyrik in der Anthologie „Was Es Bedeuten Soll“ (Parasitenpresse, 2019) und in der 21. Ausgabe der Zeitschrift „Triëdere“ (Wien, 2020).
Dotan-Dreyfus‘ Debütroman „Birobidschan“ ist ein schräges, amüsantes und komplexes Meisterwerk, welches vor allem an die satirisch-surrealistischen Erzählungen von Michail Bulgakow erinnert. Dies ist jedoch nur ein Element der künstlerischen Mykorrhiza, welche sorgfältig in den narrativen Boden des Buchs eingearbeitet wurde.

Um die Handlung, den Kern oder gar die Thematik von Tomer Dotan-Dreyfus‘ Debütroman „Birobidschan“ zu begreifen, muss zunächst ein assoziativer Ausblick gewagt werden.
Der Roman mutet nämlich wie eine Mischung der Bulgakow’schen „Teufeliaden“ und Twin Peaks an.
Birobidschan ist eine in den 1930er Jahren entstandene jüdisch-sozialistische Autonomie an der Grenze zu China, die als stalinistisches Experiment errichtet wird.
Ein „jüdisches sozialistisches Paradies“ (20).
Doch beginnt der Roman mit einem Knall im Jahr 1908 –
und gleitet ohne Unterbrechungen in folgende Dekaden am selben Ort ein, in Momente und Menschenleben, ins mystisch-magische Umland einer sich ständig wandelnden, doch stets gleichen Landschaft, deren Zeit- und Handlungsschichten, Figuren und Entwicklungsstadien alle miteinander verbunden sind und wie Strata aufeinander liegen.
Obwohl der – fiktive – Ort Birobidschan – in der Erzählwelt – durchaus in allen behandelten Momenten und Zeiten existiert und seine sehr echten Bewohner*innen mit reellen Probleme zu kämpfen haben, geht es Dotan-Dreyfus eigentlich nur im entferntesten Sinne darum, überhaupt eine Geschichte zu erzählen.
„Als Erzähler habe ich keine Zeit, Fragen zu beantworten.
Wenn ich einen Bären einfüge und dann kurz eine Zigarette
rauche oder mich von Fragen ablenken lasse, mag es sein,
dass ich nach fünf Minuten wieder zum Text zurückkehre
und aus Versehen zwei Figuren verloren habe, weil ich
den Bären nicht rechtzeitig wieder rausgeholt habe.“(12)
Dotan-Dreyfus ordnet seinen Text im Vorwort als „Versuch einer Umkehrung“ ein: er möchte untersuchen, ob Zeit „auch von links nach rechts, von Westen nach Osten kriechen“ – und „von außen nach innen fließen“ kann. (11)
Eine Prämisse, die auf den ersten Blick etwas abstrakt und unbegreifbar anmutet, sich im Laufe der Geschichte jedoch als nützlicher Lektüreschlüssel erweist.
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Es wird eine Vielfalt an Geschichten, Problemen und Menschenleben auf- und nebeneinandergelegt, die sich innerhalb und außerhalb Birobidschan fortbewegen und für die humoristische, scharfsinnige Behandlung allgemeinmenschlicher Themenkomplexe angewandt werden.
Liebe und Besitz, Depression und Tod, Alkoholismus und Gewalt, Geister und Schuld – Birobidschan ist ein Schmelztiegel, in dem sich Geschöpfe aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfinden. Alle werden sie aneinander gebunden durch die unsichtbaren Fäden der Zeit – egal in welche Richtung diese verlaufen mag.
Der ungemein persönlichkeitsstarke Humor verleiht dieser kuriosen Geschichte eine ganz außergewöhnliche Aura: wer sich bereits mit den Werken von Bulgakow, Ilf und Petrov oder anderen russischen Satiriker*innen auseinandergesetzt hat, wird viele genussvolle Assoziationen vorfinden. Doch schlummern hier auch Hinweise auf Philip Roth, Isaac Bashevis Singer, Pynchon, Vonnegut – „Birobidschan“ ist ein komplexes literarisches Gefilde, welches Beobachtenden mit Zeit und Muße vielfältige Berührungspunkte und Assoziationen zur Verfügung stellt.
„Alle hatten das Gefühl, dass Herr Kaminski den Tod des
früheren Besitzers des Hauses verursacht hatte, wussten aber
nicht genau wie und betrachteten ihn argwöhnisch,
als ob er ein Hexer oder ein Kapitalist wäre.“(29 f.)
Wer die Essenz dieser Geschichte in der Welt von Filmen und Serien orten möchte, möge an Dogville oder Twin Peaks denken. Totan-Dreyfus entwirft eine Dogville’sche Vogelperspektive auf die Bewohner*innen, lässt ihre Gefühle und Schwächen sichtbar werden, verfolgt ihre von ökonomisch zurückhaltender Einfachheit geprägten Existenzen und offenbart sogleich ungemein komplexe Leidensgeschichten, die die Simplizität aufwiegen.
Diese schmückt der Autor allerdings mit so viel Situations- und Charakterkomik aus, dass es unmöglich ist, nicht über die Tragikomik von „Birobidschan“ zu schmunzeln.
In Birobidschan ist ein ganz eigener magischer Realismus verwurzelt: so kann es auch mal vorkommen, dass eine Figur etwas sieht, was den anderen gänzlich vorenthalten bleibt.
Wem Lesende schlussendlich glauben, dürfen sie selbstständig entscheiden.
„Hypnotisiert von dem glanzvollen Blick sah Alex etwas,
das wie ein Zwinkern aussah.
Dann stieg der Bär einfach ins Wasser
und kam nicht wieder raus.“(53)
Und doch wird mensch während dieser Lektüre immer wieder zum Umkehrschluss des Vorworts geleitet: obwohl Tomer Dotan-Dreyfus einen Ort und seinen Werdegang beschreibt, die Wechselwirkungen von Menschenleben auf einer argumentativ linearen Landschaft zeichnet – und nach und nach die politischen Parallelen zu den echten Geschehnissen jener Jahrzehnte auftauchen – ging es nie, geht es nie, um die Figuren oder die Erzählwelt.
Der Kern von Tomer Dotan-Dreyfus‘ „Birobidschan“ liegt in gleichen Maßen bei individuellen und kollektiven Traumata, dem Mikrokosmos eines Ortes an sich und der Wechselwirkung mit seiner Geschichte sowie Gegenwart. Es geht um die Dekonstruktion der Spuren und Narben einer kollektiven Vergangenheit; um das Gewicht von Zeit selbst – während diese sich Dekade für Dekade im Boden von Birobidschan eingräbt.
So schmunzeln Lesende gegebenenfalls darüber, wie suspekte Jäger den mythischen Kragenbären suchen – und wundern sich, warum ein kleines Mädchen nur für einige Figuren sichtbar ist.
Doch bewegen sich unter der Erdschicht, im Dickicht der Wälder von Birobidschan – wie es eben auch in Twin Peaks geschieht – Mächte, die die individualmenschliche Bedeutungslosigkeit vor der Wucht und dem Ausmaß einer Betrachtung von Zeit und Historie sehr klar zur Schau stellen.
Tomer Dotan-Dreyfus schafft es, mit „Birobidschan“ ein enorm komplexes Netzwerk an Dimensionen und Realitäten, Kausalitäten und Mythen, Momenten und Figuren zu weben, diesem eine kunterbunte Tonalität zu verleihen – und mit einem unglaublich tiefgründigen Interpretationsboden auszustatten, den es mit Sorgfalt und genauem Blick aufzugraben gilt.
Wer die erwähnten Titel mit Gewinn gelesen und gesehen hat, möge sich nun unbedingt für eine lohnende Abenteuerreise anschnallen.
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Bibliografie:
Titel: Birobidschan
Autor*in: Tomer Dotan-Dreyfus
324 Seiten | 24,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 20.02.2023
Verlag: Voland & Quist
ISBN: 9783863913472
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Das Buch ist auf meiner Wunschliste. klingt richtig interessant.
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Es ist definitiv etwas ganz besonderes! 🙂
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