Georgi Gospodinov obduziert im introspektiven Roman „Zeitzuflucht“ kollektive Traumata aus der europäischen Zeitgeschichte und sinniert über Begriffe wie Vergangenheit, Kindheit und Erinnerung – indem er die zeitlichen Bindungen zwischen diesen Konzepten vollständig aufhebt und die Möglichkeit präsentiert, in ein beliebiges Jahrzehnt des eigenen Lebens zurückzukehren.
Es entsteht eine fesselnde existenzialistische Studie dessen, was die genannten Termini ausmacht, vor allem im Kontext der Schlussphase einer individuellen Lebensgeschichte – am Punkt, wo eine Person ihre Empfindung für die unmittelbare Realität und Vergangenheit nach und nach verliert.
Beunruhigend – und erhellend. Nicht umsonst erhielt Gospodinov für „Zeitzuflucht“ den International Booker Prize 2023.

Der bulgarische Dichter, Dramaturg und Romancier Georgi Gospodinov beschreibt in seinem Roman „Zeitzuflucht“, übersetzt von Alexander Sitzmann, die Entstehung einer Klinik aus der und für die Vergangenheit.
Die Räume der Klinik imitieren mit viel Liebe zum Detail diverse Dekaden des vergangenen Jahrhunderts.
Die Nachstellung und insbesondere Immersion in alle Facetten des Gewesenen als gegenwärtig soll vorrangig zur Therapierung von Alzheimer-Patient*innen fungieren, um diesen zu helfen, starke Traumata zu überwinden und – bestenfalls – ihre Gehirnfunktion im Regress zu balancieren.
Mittels der Rückkehr in die Kindheit sollen allerdings auch beispielsweise verbleibende Kinder, die jeglichen Anschluss zu ihren Eltern verloren haben, erfahren, was diesen eigentlich passiert ist.
Doch handelt es sich hierbei weder um eine idyllische noch eine versöhnliche Unternehmung – denn Gospodinov thematisiert die härtesten kollektiven Traumata europäischer Geschichte am Beispiel von diversen Individuen aus diversen Ländern, die er in der Klinik behandelt.
Es entsteht ein aufwühlendes und komplexes, Zeiten, Generationen und Orte transzendierendes psychologisches und zeitgeschichtliches Panorama.
„Das Zurückbringen steckte in dem Wort selbst, niemandem
war es aufgefallen… Vergangenheitsreferendum.
Ob manchmal die Spiele der Sprache mit ihren Etymologien
und Tautologien nicht mehr verraten, als wir denken?„(149)
Als klassische Beobachterfigur beschreibt der Protagonist und Erzähler des Romans eine ungewöhnliche Freundschaft mit einem mystischen Mitspieler namens Gaustín – den er unter den sonderlichsten Umständen kennenlernt.
Dass der Erzähler seinen Helden unter Umständen eigenständig entworfen und genauso liebevoll konstruiert hat wie die Geschichte selbst, bleibt im Laufe dieser interpretativ offen. Zunächst entsteht zwischen den Männern eine interessante Beziehung in Form eines Briefwechsels.
Gaustín scheint im wahrsten Sinne des Wortes in einer anderen Zeit zu leben, diese allerdings bis zur innigsten Kleinigkeit detailgetreu nachgestellt zu haben und wirklich davon überzeugt zu sein, sich dort zu befinden. Nämlich empört und äußert er sich tageweise über die Entwicklung historischer Ereignisse, die eigentlich mehrere Dekaden vor der Gegenwart der Erzählzeit stattgefunden haben.
Der Erzähler empfindet die Mystik der Situation faszinierend und jagt Gaustín im ersten Drittel der Geschichte nach – um ihn dann zu finden und im gemeinsamen Projekt Zeitzufluchtklinik sowohl eine immersive Freundschaft als auch seine eigene Berufung zu finden.
Doch birgt der kreative Umgang mit Zeit, Historie und Erinnerung zahlreiche Tücken für den Urheber und Verfasser solcher Räume, die die Wahrnehmung desjenigen wiederherstellen sollen, welchem sie verlorengegangen ist.
Nämlich verliert der bisher kohärente Erzähler nach und nach seinen eigenen Ariadnefaden.
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Die Geschichte ändert mehrmals ihr Wesen und ihre Richtung – wohl gemerkt, gewollt – Gaustín geht in Teilen verloren, der Roman über einen gemeinsamen Entwurf und die philosophische Essenz von Zeit wird nach und nach zu einem polithistorischen Essay über dasjenige, was die Hochzeit einer Nation ausmacht und wo die goldene Nostalgie eines jeden europäischen Landes liegen möge.
Daneben stehen diverse historische Traumata derselben, die ebenso überaus dezidiert aufgefasst werden, da ein Referendum stattfindet, mittels welchem die Länder kollektiv in gewisse Dekaden zurückversetzt werden sollen.
Doch wendet sich der Text erneut, um dann wieder zum Verfall der Zeit im steigenden Alter zu sinnieren.
„Verzeih mir, Gott der Utopien, die Zeiten haben sich vermischt
und du weißt nicht mehr, ob das, was du erzählst,
gewesen ist oder ob es erst noch kommen wird.“(300)
Es besteht zu keiner Stelle im Roman ein Zweifel daran, dass Gospodinov weiß, wie mit seinem Material umzugehen ist – doch sollten Lesende wissen, worauf sie sich hier einlassen. Es erwartet ein inhaltlich immens anspruchsvoller, obwohl stilistisch sanfter und freundlicher Text.
Kontrastierend ist der etwas verträumte und doch enorm analytische Stil – Kapitel für Kapitel ziehen die Formulierungen, die Gedanken, die impressionistische Melancholie des Textes in den Bann des Geschriebenen.
„Es sind unerwartete Risse aufgetreten.
Risse, aus denen das Licht der Vergangenheit strömt.
Und wir hätten doch alles vergessen haben sollen.
Die Wasser der Lethe sind auch nicht mehr das,
was sie einmal waren.“(306)
Für den Genuss von „Zeitzuflucht“ muss mensch Kapazitäten für den verträumten und kindlichen Charakter des Betrachters aufbringen – und überdies die scharfsinnigen Analysen des intertextuell und kulturhistorisch kontextualisierten schultern können.
Schließlich darf noch mit der Realisierung der universalen langsamen Verwesung umgegangen werden – die auch Lesende selbst zur Erkenntnis der individuellen Vergänglichkeit führen wird.
Meinerseits bot Georgi Gospodinovs Roman eine extrem beeindruckende Bandbreite an Ansätzen, schwebenden Gedanken, die in Form von Visionen und Exkursen Nahrung zur weiteren Reflexion bieten.
Wo die Geschichte stilistisch, inhaltlich und räumlich begann, wird sie vom Erzähler zum Schluss auch wieder ordnungsgemäß abgeschlossen – doch besteht die süße Ironie desselben darin, wie das Buch ausklingt.
„Zeitzuflucht“ konstatiert, dass uns allen die Zeit aus den Händen fließt – dass unsere Wahrnehmung, sofern wir die wichtigsten Momente unserer eigenen Geschichte nicht gezielt festhalten, dokumentieren und speichern, vergänglich und fragil ist.
Speichern, aufbewahren, sichern – doch wie?
Sofern Figuren mit dieser Problematik konfrontiert werden, können Lesende ohne Bedenken folgen – doch Gospodinov transzendiert seine Materie, indem er die Distanz zum Erzähler minimiert, schlussendlich mit dem Lesenden am Ufer der Lethe sitzen und Gehirnyoga ausüben lässt, stets den unumgänglichen Tod und das immanente Vergessen vor Augen haltend.
Das Resultat ist immersiv, intensiv, ungewöhnlich und außergewöhnlich – aber mit Sicherheit weder massenkompatibel noch lässig noch leicht zu verzehren.
Schon aus diesem Grund möchte ich meinerseits eine Leseempfehlung für dieses Buch aussprechen.
Bibliografie:
Titel: Zeitzuflucht
Autor*in: Georgi Gospodinov
342 Seiten | 15,00 € (Tb) (D)
Erscheinungsdatum: 14.11.2023
Verlag: aufbau
ISBN: 978-3-7466-3996-3
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Danke. Ohne Sie wäre mir dieses ganz offenbar auch ästhetisch hochinteressante Buch entgangen.
ANH
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Gerne, auch mich hat die Vielfalt positiv überrascht.
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Ich fand es beeindruckend in jeder Hinsicht. Ich kannte schon Erzählungen vom Autor und bin nun so begeistert, dass ich auch nach seinen älteren Büchern noch schauen werde.
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Das werde ich mit Sicherheit auch tun, schon zumal ich Gospodinov auf der Frankfurter Buchmesse besonders eloquent und sympathisch aufgefasst hatte und dies sich im Werk nunmehr bestätigt hat.
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Ach schön. Es gibt beim eta Verlag einen schön illustrierten Lyrikband. Den habe ich schon länger im Auge.
Viele Grüße!
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