In leicht-lockerer Manier malt Dmitrij Kapitelman in seinem Roman „Russische Spezialitäten“ den Alltag einer Familie aus – und entlockt Lesenden zunächst ein intensives Dauerschmunzeln. Die Szenen in dem kleinen Leipziger Geschäft, welches, wie der Titel bereits verspricht, „Russische Spezialitäten“ heißt und selbiges verkauft, sind komisch, witzig, markant.
Wo jedoch Lachfältchen anmuteten, werden Sorgenfalten enthüllt – denn das Innenleben dieser ukrainischen Familie ist alles andere als amüsant.
Mittig des Romans bewegt die Handlung sich schließlich in gänzlich prekäre Gefilde.
In Leipzig blüht ein ein kunterbuntes Geschäft auf, in dem die Regale und Kühltruhen mit Plombir-Eis, Obolon-Bier, Sprotten, Kwass, Pelmeni und allerlei Ostnostalgie hervorrufenden Waren gefüllt sind. Betrieben wird dieser von einem ukrainischen Ehepaar und ihrem jungen Sohn. Dieser Sohn schildert im Verlauf der Handlung rückblickend seine Kindheit und die Entstehungsgeschichte des Geschäfts, spricht in die Gegenwart schauend über die ihn umgebenden Figuren, Kulissen und prägenden Konflikte.
„Russische Spezialitäten“ ist nicht nur eine lustige Bestandsaufnahme aus jugendlich-leichter Perspektive, sondern eine beeindruckende Sammlung an emotional wirkungsmächtigen Szenen. Tragik und Komik gehen hier Hand in Hand. Dmitrij Kapitelman erzählt in diesem Roman mit viel Feingefühl die Geschichte einer ukrainischen Familie, deren Alltag von Hürden und Kämpfen geprägt ist – sowohl aufgrund ihrer Vergangenheit als auch ihrer Gegenwart.
Wir lernen beispielsweise, dass sehr tief getragene Hosen auf ein ambitioniertes Gemüt deuten – oder lesen, wie ein gewisser Grad an lauter Unfreundlichkeit zum östlich stilisierten Kundenservice dazugehört und von geschätzten Kunden auch erwartet wird. Oder erfahren, dass übersüßte Limonaden und das sozialistische Weltbild eigentlich widersprüchliche Entitäten sind.
Doch darüber hinaus geht es auch um den Status quo vor Ort und in der Heimat – denn in der Ukraine herrscht Krieg, und die bitteren Umstände außerhalb des Ladens auf den Leipziger Straßen sind ebenso nicht zu übersehen.
„Der Enkel des Chefkochs hilft neuerdings
nachmittags mit aus.
So wie ich früher.
Ein ganz unschuldig knuffiges Küken ist er,
kaum größer als die AfD-Plakate draußen,
die ihn lebenslang in diesem Land einschüchtern
und die Gewaltgrenzen einprägen sollen.„(95)
Kapitelman entwirft in diesem Buch ein authentisches Familienpanorama, welches sowohl im zwischenmenschlichen als auch im zeitgeschichtlichen Sinne in intensivsten Farben aufleuchtet.
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Vor allem sind es die inneren Konflikte des Protagonisten, die der Handlung emotionale Tiefe und menschliche Vielfalt verleihen. Denn die Last, seine von russischer Propaganda geblendete Putin vergötternde Mutter zeitgleich als seine Erzeugerin und Ernährerin zu lieben und zu ehren, während ihre Gedanken und Aussagen ihn zutiefst beschämen, ist des Öfteren unerträglich.
Zudem macht sich auch im Inneren des Protagonisten selbst ein Zwiespalt breit: als Erbe, Träger und Teil der russischen Sprachkultur empfindet er sich als schuldig, als Komplize.
„Ich trage eine Sprache wie ein Verbrechen in mir
und liebe sie doch, bei aller Schuld.“(17)
In spannenden Passagen sinniert der Protagonist in diesem Zusammenhang über philologische Themen wie zum Beispiel das Wort für ‚Sprache‘, welches im Russischen (und übrigens auch im Estnischen, in meiner Muttersprache) synonym mit Zunge und somit nicht nur psychisch, sondern auch physisch ein Teil des Körpers ist – also ein wahrhaftig berührbares Stück seiner Identität ausmacht.
Auch wenn die stets mit Selbstironie gemischten Beobachtungen das Lächeln beim Lesen nie wirklich verschwinden lassen, wird ein graduell höheres Maß an Kummer untergemischt.
Die Zäsur mittig des Romans, derjenige Schritt, der dem Buch seinen finalen Tiefgang und Goldwert gibt, ist die Reise des Protagonisten nach Kjiw, wo alte Konflikte und bisher Unausgesprochenes mit Freunden und Familienmitgliedern zur Aussprache kommen.
„Wenn alle Antisemiten so besorgt um die Gesundheit
meines jüdischen Vaters wären wie Andrij,
könnte ich an dieser Front beruhigt sein.“(133)
Nicht nur sind die Szenen und Dialoge authentisch und charismatisch, das Personal interessant und lebendig – in deutlichster Manier werden anhand dieser Gespräche die gängigsten (und lächerlichsten) Fehlinformationen über innerpolitische Konflikte, angeblichen Extremismus und unmenschliche Taten seitens Ukrainer*innen enttarnt.
„Russische Spezialitäten“ ist nicht nur eine psychologisch gelungene Analyse zum Schmerz eines Sohnes im Zwiespalt zwischen Verantwortung und Liebe – Kapitelman entwirft zudem ein charakterstarkes, unterhaltsames Panorama dessen, was osteuropäische Menschen an Osteuropa lieben (meine persönliche Nostalgie uferte des Öfteren aus), und lehrt auf nachvollziehbare Art und Weise über den Status Quo in der Ukraine.
Genussvolle Sprache, witzige Szenen, markante Figuren, scharfsinnige Gedanken und authentische Erzählkulissen zeichnen „Russische Spezialitäten“ in meinen Augen als ganz große Leseempfehlung aus.

Bibliografie
Titel: Russische Spezialitäten
Autor*in: Dmitrij Kapitelman
192 Seiten | 23,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 18.02.2025
Verlag: Hanser Berlin
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