Gefährliche Gedanken. Dorothee Elmiger: „Die Holländerinnen“

Dorothee Elmiger geht im Roman „Die Holländerinnen“ den Doppelbödigkeiten von Wahrheit und Wirklichkeit, Unbehagen und Bedrohung sowie Angst und Befremdung auf den Grund.

Unter anderem für seine stilistische Einzigartigkeit und fesselnde Art wurde „Die Holländerinnen“ als Buch des Jahres gekrönt: Bis dato erhielt der Roman den Deutschen Buchpreis und den Bayerischen Buchpreis 2025.

Die Botschaft des knappen, dichten Textes fällt auf vielen Ebenen prekär aus – insbesondere wackelt mit dieser Entscheidung das Podest Deutscher Buchpreis.


Eine namenlose Schriftstellerin steht auf dem Podium einer Literaturveranstaltung und erzählt von einer erschütternden Erfahrung im tiefen Inneren des Urwalds. Ein Theatermacher möchte ein Stück im Amazonas inszenieren; eine Katastrophe, einen Fall, nachspielen: das mysteriöse Verschwinden zweier Holländerinnen. Die Autorin wird Teil des Projekts.

Die Autorin schildert das Geschehen in Etappen; die Veranstaltung wird in Episoden geteilt, die intensiven Schilderungen immer wieder durch die Rückkehr in die Rahmenerzählung unterbrochen. So betont die Distanz zum Material auch ist, spricht die Autorin in ihren Schilderungen immer wieder über Doppeldeutigkeiten, die sich in Texten öffnen, über ein Unbehagen, dass sie befallen habe – und über das Gefühl, die Grenzen der eigenen Wahrnehmung nicht mehr berühren zu können.


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Sei die Funktion der für fast den gesamten Text gewählten indirekten Rede Distanz zu schaffen oder die Doppelbödigkeit der Schilderung nicht nur im Inhalt, sondern auch der Form in deutlichster Art zur Schau zu stellen: die Entscheidung polarisiert.

Nicht nur als deutsche Schülerin* in Deutschland, sondern auch als DaF-Lernende in anderen Ländern ist eine Textanalyse mit indirekter Rede irgendwann teil der Kür. Trotz dem „aha-wir-hatten-das-doch-schonmal“ sei die sprachliche Komplexität, so meine Resonanz-Recherche für viele Lesende unangenehm; der Text wurde mitunter als unangemessen, überheblich oder verschachtelt beschrieben.

Und doch inspirierte „Die Holländerinnen“ mindestens ebenso viel, wenn nicht wesentlich mehr Faszination – so wie in der Jury des Deutschen Buchpreises, so auch in meiner persönlichen Erfahrung. Bereits die Leseprobe fesselte und beeindruckte mit feinst geschwungener literarischer Kalligraphie.

Sprachlich liegt für mich also offensichtlich ein Meisterstück vor. In Puncto Inhalt und Handlung ließe sich allerdings hitziger diskutieren.


Elmiger weist des Öfteren darauf hin, wie die Abstrahierung und das theoretische Gespräch über Themenkomplexe und Ideen sich über dem Geschehen an sich erhebt; wie wir uns als Lebende und als Lesende in einer diskursiven Welt befinden, in der alle Aspekte und Details irgendeine Relevanz haben, weil die Echtheit eines Geschehens vom Nichtspielen kommt.

So ist es auch verständlich, dass der Theatermacher seine Darstellerinnen ohne Kurs und Karte ein Erlebnis haben lassen und diese dabei beobachten möchte. Der Autorin kommt dabei die Rolle der Protokollierenden zu – mit der Aufgabe, alles festzuhalten.

Entsprechend geschieht auf Handlungsebene vor Ort wenig, weil ja alles eine Bedeutung haben kann, jedes Wort und jede Szene aufgeladen ist – und die Leserin an jeder Leine tanzen darf, weil hier irgendwo eine Katastrophe warten soll. Auf reiner Handlungsebene fällt der Roman sogar antiklimaktisch, schwach, aus. Es sind die interpretativen Weiten, in die sich aufmerksame, reflexionsfleißige Leserinnen begeben sollen – und deren Auswertung in meinen Augen zu prekären Ergebnissen führen kann.


So emsig Kritikerinnen in jedem Buch, in dem weiße Eroberer den Amazonas betreten, erstmal möglichst viele Conrad-Vergleiche erschnüffeln wollen, so wird frau hier lediglich in kleinen Teilen fündig: die Reise führt immer tiefer in die Wildnis, die Dunkelheit und den Verlust des Selbst; ein gewisser Wahn und eine Unfähigkeit, die eigenen Konturen wahrzunehmen, übermannt die Figuren während ihres Aufenthalts – und ein großes Unbehagen scheint überall zu lauern.

So tief in die Finsternis schreitet Elmiger allerdings nicht voran, dass die Klänge des Conrad’schen Herzschlags erkennbar wären.

„Die Holländerinnen“ brilliert als Text in den Kategorien Stil und Sprache. Das literarische Kontrastkonstrukt wird meisterhaft aus einem zutiefst verstörenden Inhalt und einer vollkommen affektfreien Form aufgebaut – jedes kompositorische Stockwerk mit gleichbleibender Präzision. Und in einer Welt, wo sprachliche Exzellenz als Hauptkriterium für hervorragende Literatur gilt, hätte die Jury in Frankfurt zweifelsohne auch das richtige Buch gekrönt. Zumal die indirekte Rede als Mittel zur distanzierten Berichterstattung wohl eines der deutschesten Dinge überhaupt gilt, was Sprache betrifft.

Allerdings sind weitere Ebenen des Textes und seiner Mehrdeutigkeit zu betrachten – so deutlich die Protagonistin doch in eigenen Worten darauf hinweist, dass hier sogar die Zeilen zwischen den Zeilen seziert werden sollten. Und spätestens auf den dritten Blick zeigt das analytische Mikroskop besorgniserregende Ergebnisse an.


Die meisten Facetten und Facettchen der Geschichte laufen auf eine übergreifende Thematik hinaus (auf die auch die Buchpreisjury in ihrem Lob hinweist): die „Selbstüberhebung“ unserer Gegenwart. So wird nicht nur das Verschwinden der Holländerinnen, die sich alleine in den Urwald begeben haben und nie wieder rausgekommen sind, sondern auch die entsprechende Wanderung der Gruppe um den Theatermacher als gefährliches Spiel mit höheren Mächten dargestellt, welches bestenfalls in der Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit, schlimmstenfalls im Verlust des Selbst endet.

Doch darüber hinaus sinniert die Autorin auch über das Zähmen von wilden Pferden und das Betreten von unbemannten Territorien – die nicht dem Menschen, sondern der Natur gehören. Sie beschreibt ohne Kritik und ohne Affekt Zustände und Prozesse, die schmerzen, zum Nachdenken anregen sollen, als Warnung gelten sollten – in feinster Beamtensprache.

Eine solche Perspektive auf schlimmste Szenarien wirft bestenfalls Fragezeichen auf, lässt starke Emotionen brodeln und inspiriert Kritik und Skepsis an der trockenen Behandlung der Ereignisse. Schlimmstenfalls verherrlicht der Text die verantwortungslose Beschädigung und den ignoranten Umgang mit Orten und Dingen, die unberührt bleiben sollten.


Dass Literatur eine textuelle Kunstform ist und Kunst als zwecklos gelten darf, steht außer Frage. In dieser Hinsicht reiht sich „Die Holländerinnen“ als hervorragendes Meisterwerk der deutschsprachigen Literatur ganz weit oben ein.

Doch bleibt zuletzt zu diskutieren, ob zeitgenössische Literatur in Umbruchszeiten nicht mehr – oder gar vorrangig – Engagement zeigen, soziale Verantwortung übernehmen und Kritik ausüben sollte, anstatt den weißen Kolonialismus zu neutralisieren oder zu verherrlichen und literaturphilosophische Eskapaden als Ablenkung von kritischen Denkmustern zu nutzen.

Angesichts der Shortlist des Deutschen Buchpreises empfinde ich die Wahl eines solchen Textes als Buch des Jahres aus diesen Gründen als eine hochgradig gefährliche Entscheidung. Inwiefern meine Leserschaft mir an dieser Stelle zustimmt, möchte ich gerne weiterführend in den Kommentaren besprechen.

Meine ersten Eindrücke zu allen Büchern der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025 findest Du auf meinem YouTube-Kanal Literarische Abenteuer:

* das generische Femininum versteht sich als Oberbegriff für alle Personen jeden Geschlechts.

Bibliografie

Titel: Die Holländerinnen
Autor*in: Dorothee Elmiger

160 Seiten | 23,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 19.08.2025
Verlag: Hanser

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1 Antwort

  1. Ich freue mich ein bisschen über die Formulierung „…in feinster Beamtensprache.“, weil es auf den Punkt bringt, was mich am meisten davon abgehalten hat weiterzulesen, was ich allerdings selbst irgendwie nicht zu fassen gekriegt habe. Und deine Rezension zeigt mir, dass sich ein neuer Anlauf für mich nicht lohnt. Danke für die kritische Einordnung.

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