Die Norm ist ein Hirngespinst. Olga Tokarczuk: „Empusion“

Die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk (* 1962) kombiniert in ihren persönlichkeitsstarken Texten wissenschaftliche Ansätze, historische Diskurse und figurenpsychologische Ansprüche mit Elementen des Schauers und Grusels. Ihre Romane „Unrast“, „Anna in“ und „Gesang der Fledermäuse“ habe ich mit hohem Interesse gelesen und in ihnen ein enormes Ausmaß an Refalexionsboden gefunden.

Versucht die Autorin mit „Empusion“ wirklich einen weltberühmten Klassiker zu imitieren – und welche Aspekte des neuen Romans orten ihn schlussendlich fest im Tokarczuk’schen Erzähluniversum?


© Kampa Verlag

Olga Tokarczuks neuester Roman „Empusion“, übersetzt von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, mutet auf den ersten Blick wie eine Nachstellung von Thomas Manns „Zauberberg“ an.

Einiges – vieles – hat diese Geschichte mit dem Klassiker tatsächlich gemeinsam:

Der Handlungsort ist ein Sanatorium, die Geschichte spielt in den 1910er Jahren.

Mieczyslaw Wojnicz, Ingenieurstudent aus Lemberg, findet sich aufgrund einer erkrankten Lunge im besagten Sanatorium in Görbersdorf in Niederschlesien ein.

Die dort hausierenden Handvoll exzentrischer Individuen finden sich am Abendtisch zu diversen zeitgenössischen politischen Diskussionen über allgemeinmenschliche und europäische Angelegenheiten ein – und lassen sich des Öfteren den regionalen Kräuterschnaps „Schwärmerei“ munden.

Zwischen dezidierten Argumenten und sorgfältig gewählten Krawatten besucht Wojnicz die Schule des Lebens, lernt einer von den Kerlen zu sein.

Eine Position, die ihm aus diversen Gründen weder natürlich noch angenehm anmutet.


Zudem ergänzt Tokarczuk die Geschichte um so viele spannende, schräge, makabre – und in Teilen urkomische – Aspekte, dass „Empusion“ zum Schluss des Buchs reichlich wenig mit Thomas Manns Opus Magnum am Hut behält.

Zwischen Müßiggang, Liegekur und Lustwandeln merkt Wojnicz nach und nach, dass in den Gebäuden und umgebenden Wäldern allerlei unheimliche Gestalten zugange sind.

Im Vergleich zum Mann’schen, Davos’schen Grusel, der vornehmlich an Bilder von zerfallenden Körpern, pfeifenden Lungen und der Angst vor dem Sterben gebunden ist, geht die hiesige Geschichte nämlich wesentlich tiefer in düstere Gefilde.

Direkt nach der Ankunft Wojnicz‘ stirbt eine Person im Sanatorium – und zwar nicht an den Folgen einer Lungenkrankheit. Üble Wahrheiten und unheimliche Legenden über das Personal des Sanatoriums und die Geschichte des Ortes werden aufgedeckt.


Jeder von uns ist ein potenzieller Irrer, mein junger Freund.
Die Norm ist ein Hirngespinst.
Jeder von uns hockt an der Grenze zwischen der eigenen inneren Welt
und der Außenwelt und vollführt dort einen gefährlichen Balanceakt.

Das ist eine äußerst unbequeme Position,
nur wenigen gelingt es, das Gleichgewicht zu halten.“(289)


Der Untertitel „natur(un)heilkundliche Schauergeschichte“ lässt bereits erahnen, in welche Richtung Tokarczuk mit „Empusion“ gehen möchte – gibt allerdings bei Weitem nicht die volle Pracht dessen Preis, was die Autorin mithilfe der argumentativen Vorlage erschaffen hat.

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„Empusion“ weist klar gewählte Elemente des Klassikers auf: beispielsweise taucht immer wieder ein auktorialer Wir-Erzähler auf. Ein meines Erachtens sehr künstlicher Griff, der argumentativ etwas erzwungen wirkt – und ganz klar als Mittel zum Zweck der Verknüpfung dient. Im Großen und Ganzen beeinflussen diese Passagen jedoch nicht den Text, der so viele andere spannende Facetten vorzuweisen hat.


Bleiben wir noch ein paar Augenblicke bei ihm,
hören wir seinen ruhigen Atem;
wir freuen uns, dass seine Lunge sich beruhigt hat.“(17)


Der zum Beginn subtile und in Teilen sehr ungemütliche Humor wird in einer ständigen Steigerung zahlreicher Motive ausgearbeitet, die ganz offensichtlich aus „Zauberberg“ stammen und hier ins Absurde zugespitzt und ausgeweitet werden.

Nicht nur thematisiert Tokarczuk für heutige Verhältnisse hirnrissige Heilmethoden für Lungenkrankheiten – und führt für Lesende im Jetzt geradezu kriminell ortbare Positionen in Gesprächen zwischen Spezialisten ihres Fachs aus; zwischen Ärzten, deren medizinisches Wissen und ethische Positionen in einem extremen Chauvinismus verwurzelt sind.

Ebenso geht der Text an mehreren Stellen im Grotesken auf. Es werden Gerüche und Ausdünstungen der Patienten sowie die jeweiligen Krankheitsgeräusche der verwesenden Lungen und anderer Organe äußerst detailliert beschrieben, wie der Husten:


Als kochten in den Retorten des
jugendlichen Körpers feuchte Miasmen,
als wäre der Urschlamm in Gärung, aus dem vor
Millionen Jahren das Leben entstanden war.“(183)


Wohl am interessantesten ist die zweite Krankheitsgeschichte von Wojnicz, der unter einer Identitätskrise der tiefsten Manier leidet. Aus Spoilergründen möchte ich darauf allerdings nicht weiter eingehen.

Gesagt soll sein, dass Tokarczuk in „Empusion“ auf zeitgenössische Themen wie Queerness, Selbstbild, Feminismus und eingeht, unglaublich intelligent und satirisch mit Kontrasten und für Mann zeitgenössischen Positionen arbeitet – um dann die Erzählwelt, in der Lesende sich befinden, gekonnt und mit Wucht auf den Kopf zu drehen.

Wichtig und klar hallt zudem die Anmerkung der Autorin im Nachwort nach: „Sämtliche misogynen Ansichten in diesem Roman stellen Paraphrasen von Textpassagen folgender Autoren dar“ (377) – diese Anmerkung stellt die Figuren und ihre Dialoge in ein klar zeitkritisch gefärbtes Licht und verleiht dem Buch eine konturierte Interpretationsebene.


Ohne Zweifel ist „Empusion“ von Olga Tokarczuk als Schauerroman, als düstere Geschichte, als Analyse menschlicher Untergründe und als gruselige Offenbarung entsetzlicher Begebenheiten zu lesen. Doch birgt dieses Buch, sehr ähnlich meinem bisherigen Liebling, „Gesang der Fledermäuse„, tonnenweise Gesellschaftskritik, subtile literarische Querverweise, eine neue Lesart für Thomas Mann und einen großartigen, trockenen Humor, der Fans der Autorin nicht entgehen wird.

Was die Inspiration für den sehr interessanten Titel betrifft, soll auch diese Lesenden zur eigenständigen Entdeckung frei bleiben. Welche Geister, Dämonen und anderen Geschöpfe sich nämlich im Erdboden im Umland des Sanatoriums verbergen – und warum diese düsteren Flecken einen direkten Bezug zum Protagonisten haben – ist eine faszinierende Entdeckung, die den Roman auf eine weitere Art und Weise gekonnt ins Gesamtwerk einbettet.


Wer schnelle Geschichten mag und Handlung vor Reflexion bevorzugt; wer szenische Ausschweifungen und interpretationsoffene Gedanken nicht interessant findet, sollte dieses Buch Tokarczuk generell meiden, da die Autorin in jedem ihrer Werke eine hohe psychologische, literarische und wissenschaftliche Komplexität beansprucht.

Meinerseits handelt es sich jedoch um eine der faszinierendsten Autor*innen unserer Zeit.

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Bibliografie:

Titel: Empusion
Originaltitel: Empuzjon
Autor*in: Olga Tokarczuk
Übs.*in: Lisa Palmes, Lothar Quinkenstein

384 Seiten | 26,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 20.04.2023
Verlag: Kampa
ISBN: 978 3 311 10044 7

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1 Antwort

  1. Mich hat es äußerst stark an Jelineks Naturempfinden erinnert, das Eintauchen, Abtauchen in die sedimentierte Naturgeschichte. Es ist das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe und bin nun sehr interessiert, wie die anderen sind. Vielleicht wähle ich als nächstes „Gesang der Fledermäuse“ – mir gefällt die langsame, dezidiert sprachlich-orientierte Erzählweise Tokarczuks sehr. Danke für den Tipp mit den Fledermausgesängen. Viele Grüße!

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  2. Das Buch liegt auch schon bei mir und wartet auf seine Lesezeit.

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