Brit Bennett gehört zu den wichtigsten und beliebtesten jungen Autoren der neueren U.S.-amerikanischen Literatur. Ihr zweiter Roman Die verschwindende Hälfte (The Vanishing Half, 2020) ist eine ungeschönte, herzzerreißende Geschichte des immerwährenden Kampfes gegen Rassismus und verklemmte Hassmentalität.
Erfüllt der Bestseller die Kriterien für eine Gleichstellung mit Toni Morrison, der unübertroffenen Meisterin der Afroamerikanischen Melancholie?
Die Zwillingsschwestern Desiree und Stella Vignes wachsen in Mallard auf – ein winziger Ort in Louisiana, der auf keiner Karte eingezeichnet ist und deren Einwohner auf ihre von Generation zu Generation heller werdende Haut den höchsten Wert legen. Eine fanatische Ideologie, die beide Schwestern bis an ihr Lebensende begleitet – jedoch mit den unterschiedlichsten Auswirkungen. Stella und Desiree entfliehen den Fesseln ihrer Heimat zunächst und bauen ein eigenes Leben auf – doch entwickelt sich dieses für beide Schwestern weitab von ihrer Vorstellung.
Obwohl dem Leser vorerst die Schwestern als Protagonisten vor Augen geführt werden, die um jeden Preis das regressive Kleinstadtmilieu ihrer Jugend verlassen möchten und diesem doch nie entkommen können, ist die Figurenstruktur in der Geschichte weit komplexer.

Der Roman zeigt ungeschönt den tief sitzenden Schmerz, den man mit sich trägt, wenn die eigene Familie, das Milieu der Kindheit oder das allgemeine Umfeld das Individuum davon überzeugt hat, sich für einen Aspekt ihrer Person zu schämen.
Unter dieser Prämisse blüht die Beziehung zwischen Desirees und Stellas Töchtern auf, und die schwarze Gemeinschaft trifft ebenso unverhofft auf die Trans-Community. Weitere Arten der Persönlichkeitsspaltung, des Doppellebens und Formen von Scham wegen des eigenen Körpers werden ausgeführt. Der Bruch mit der eigenen Familie zugunsten der Umsetzung einer neu gewählten Identität wird eher zur Regel als zur Ausnahme.
Es handelt sich hierbei nicht um eine Bande von Misfits. Bennett gelingt es, zu zeigen, wie scheinbar durchschnittliche Individuen von ihrer Vergangenheit verfolgt werden und schwere Traumata mit sich tragen, die zu bewältigen ihre gesamte emotionale Kraft kostet. Der Roman beginnt mit internem Rassismus und weitet sich auf die sehr universale Ebene persönlicher Schamgefühle und Verlust des Selbstwertes aufgrund von Bigotterie aus.
Das Andere, Fremde, Alternierende, Ungewöhnliche, welches eigentlich den individuellen Wert der Figuren ausmacht und sie auszeichnet, führt zu Unterdrückung Gewalt und Schmach, da es den zeitgemäßen Konventionen nicht unterliegt. Jude wird wegen der Borniertheit ihres Umfeldes nie vollständig akzeptieren können, dass ihre blauschwarze Hautfarbe ästhetisch und einzigartig ist. Desiree hingegen wird nie entspannt schlafen können, da ihr gesamtes Leben aus Lügen besteht.
Die Arten, Orte und bei Menschen bei denen die Figuren schließlich zu sich selbst, zu einer liebenden und geliebten Familie finden, bilden die Narrative der Hoffnung, die dem Roman zugrunde liegt. Es tut weh, doch es wird besser, kommuniziert Bennett in ihrer schwermütigen Geschichte.
Und obwohl der Roman in den 1950ern beginnt und in den 1980ern endet, sind die Diskurse bezüglich Transphobie, Rassismus und auf dem Hautton basierender Diskrimination in ihrer Entwicklung auch in 2020 bei weitem nicht so nahe an Akzeptanz, Toleranz und Gleichberechtigung angekommen, wie es zu wünschen wäre.
Sowohl für die sehr brennenden Themen, die realistische Schilderung von Randgruppen und deren Misere, als auch für die Erinnerung an die weiterhin drückende Präsenz vom alltäglichen Rassismus ist die junge Autorin sehr zu loben.
Die verschwindende Hälfte ist ein definitiv lesenswerter Roman, der den großen Werken Morrisons in vielerlei Hinsicht nahe kommt.
Ebenso wissenswert: Die Filmfassung von Bennetts Debütroman Die Mütter sei bereits in Produktion. Nun habe HBO den Bieterkrieg gegen 16 Konkurrenten gewonnen und produziere eine Miniserie in Zusammenarbeit mit der Autorin. Auch auf diese vielversprechende Umsetzung bin ich sehr gespannt.
Wie fandet ihr den Roman? Auf eure Resonanz freue ich mich in den Kommentaren.
Bibliografie:
Titel: Die verschwindende Hälfte
Autor: Brit Bennett
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 15.09.2020
Verlag: Rowohlt
ISBN: 9783498001599
Die verschwindende Hälfte bestellen bei: Thalia * buch24.de *
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Kategorien:Neuerscheinungen
Vielen Dank für die Rezension. Mir ist das Buch schon öfter in den sozialen Netzen begegnet, nur haben die meisten den Inhalt nicht zu Wort gebracht. Klingt sehr spannend und kommt auf die To-Read-Liste
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Danke! Es gäbe wesentlich mehr Inhaltliches hervorzuheben, aber ich finde es besser, den Leser das Genauere dann doch selber entdecken zu lassen. Empfehlen kann ich das Buch auf jeden Fall. 🙂
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