Symmetrie bleibt Utopie. Miku Sophie Kühmel: „Triskele“

Die deutsche Autorin und Podcasterin Miku Sophie Kühmel (* 1992) studierte Literatur- und Medienwissenschaften in New York und Berlin. Ihr Debütroman „Kintsugi“ wurde mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet und stand im Jahr 2019 auf der Shortlist des deutschen Buchpreises.

Welche gelungenen Aspekte von „Kintsugi“ hat Kühmel im neuen Roman „Triskele“ erfolgreich weiterentwickelt – und welche Schwächen hemmen die Lektüre?


© S. Fischer

In ihrem neuen Roman „Triskele“ führt Miku Sophie Kühmel zahlreiche derjenigen Muster und Methoden fort, die bereits in ihrem Debüt „Kintsugi“ geprägt und geformt wurden.

Kintsugi“ kreist um die zwanzigjährige Beziehung von Reik und Max, die sich in ihrem Ferienhaus auf ein – scheinbar – ruhiges Wochenende mit ihrem ältesten Freund Tonio und seiner Tochter einrichten.

„Triskele“ erzählt die Geschichte von drei Schwestern, die im Haus ihrer verstorbenen Mutter zusammentreffen, um Bilanz zu ziehen – hinsichtlich ihrer Rolle als Tochter, Schwester und Frau.

Mercedes, Mira und Matea, die aufgrund ihrer erheblichen Altersunterschiede (und weiterer Nuancen der individuellen Lebensgeschichten) ausgesprochen unterschiedlich geprägt und erzogen wurden, müssen nun gemeinsam das Hab und Gut ihrer Erzeugerin distribuieren und den Hintergründen ihres unnatürlichen Todes auf den Grund gehen.

Auf dem Weg zur schockierenden Wahrheit über den Tod der Mutter treten diverse schmerzvolle, faszinierende, komplexe psychologische Facetten aller drei Protagonistinnen hervor – die die Frauen gleichzeitig radikal kontrastieren und ihre Position als Töchter derselben Mutter wiederholt unterstreichen.


Während im Debüt mittels vier wechselnden Perspektiven die fragmentierte Essenz einer komplexen Liebesbeziehung obduziert wurde, analysiert Kühmel in „Triskele“ die Beziehungen dreier Frauen zueinander, zu sich selbst – und zum semantischen Umfeld dessen, was aus diversen Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeiten als Weiblichkeit und Frausein begriffen wird. Generationen treffen implizit aufeinander, da die Schwestern teils auch Mutter und Tochter sein könnten.

Die Funktionalisierung des kühlen, rauen Erzählortes und der atmosphärischen Kälte in „Kintsugi“ werden in „Triskele“ mit einer Fülle an morbiden Introspektiven ausgeglichen: alle Schwestern beschäftigen sich – die eine mehr, die andere weniger – mit einem möglichen plötzlichen Austritt aus ihrer individuellen Existenz.


Ein Stolpern auf gebohnerter Treppe
oder eine Ampelphase, die nicht abgewartet wird,
können uns in der Mitte durchtrennen,
und ein Nervenzusammenbruch passiert gegebenenfalls
ungeduscht zwischen Gurkengläsern.“(26)


Ebenso weisen die drei Protagonistinnen eskapistische Tendenzen auf – sei dies die Flucht der jüngsten Schwester in eine virtuelle Realität oder die angestrebte Isolation der ältesten Schwester von ihrer menschlichen Umwelt. Diese beschreibt Kühmel auf eine sprachlich gelungene Art und Weise.


Gerade auf den zweiten Blick erscheint die Themenwelt von „Triskele“ geradezu überwältigend – hinsichtlich des auf die Schwestern plötzlich einprasselnden emotionalen Gewitters ist diese Fülle an unerwarteten Impulsen, intensiven Gedanken und flüchtigen Momenten allerdings als authentisch zu bewerten.

Interpretativ problematisch wird die Lektüre in der zweiten Hälfte des Romans, da kompositorische Kniffeligkeiten der Entfaltung thematischer Tiefgründigkeiten des Öfteren im Weg stehen und die im ersten Teil skizzierten psychologischen Komplexitäten zu sehr übereinander wuchern lassen.


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Als argumentativ auffälligster Kritikpunkt ist die versuchte perspektivische Dynamik des Romans hervorzuheben.

Hilfslinien kompositorischer Ambitionen werden zwar sichtbar angesetzt – mit der Umsetzung aus drei Perspektiven ein fehlendes Gleichgewicht in der Familiendynamik aufzuzeigen, oder authentische Linien zur Person der Mutter zu ziehen und dabei eine narrative Spannung aufrecht zu erhalten –, unglücklicherweise misslingt die Umsetzung mehrerer Ziele.


Sosehr die Aufarbeitung der behandelten Themen gelingt und die Geschichte an sich es schafft, zu berühren, zur Reflexion anzuregen, diskursiven Nachhall zu erzeugen – sämtliche der oben erwähnten Ambitionen könnten (argumentativ) stringent und figurenpsychologisch balanciert erzielt werden, wenn die Geschichte ausschließlich aus der Perspektive von einer der Geschwister gelesen werden könnte.

Das Konzept der „Triskele“ selbst – welches flüchtig auch als Dingsymbol im Text vorkommt – die Idee von drei Schwestern, die zwar aus derselben mütterlichen „Urquelle“ stammen, doch unterschiedliche Väter, Persönlichkeiten, Generationen und Konzepte des Weiblichen repräsentieren – sämtliche dieser Ansätze sind ausnahmslos faszinierend, einer literarischen Grübelei mehr als wert.


Und doch hapert es an der Ambition des Multiperspektivischen, wenn – immer wieder – der Gedankenfluss oder die Vertiefung einer erzählenden Schwester durch die (teils erzwungene) introspektive Präsenz der anderen verdrängt und abgelöst wird.

Ähnlich verhält es sich mit der sexuellen Fluidität und Queerness der Geschwister und dem Netzwerk ihrer komplexen Beziehungen, welche im Ansatz und als Idee interessant und authentisch skizziert werden – um zum Schluss der Lektüre für weitere Fragen, Lücken und Unebenheiten zu sorgen.


Keine von uns wird hierher zurückkehren.
Als es hell wird, lassen wir den Garten hinter uns, […]
und wir hoffen ein wenig,
dass wir den Schmerz zurücklassen können.“(252)


Dabei hätten zahlreiche faszinierende Aspekte weiter ausgedehnt und vertieft werden können: die expliziten und impliziten körperlichen und emotionalen Traumata der Mutter, die in allen drei Schwestern nistende Depression, der individuelle und gemeinsame Umgang mit geerbten körperlichen Beeinträchtigungen… Jede der Protagonistinnen wäre als Figur lesenswert, alle Geschwister wecken Empathie und Interesse.

Zuletzt sind die gelungenen Dialoge zwischen den Schwestern hervorzuheben. Die direkte Kommunikation zwischen Mira, Mercedes und Matea beinhaltet eine Kombination von episodischer Leichtigkeit und Vertrautheit, die abrupt zu radikaler Feindseligkeit wechselt – um schließlich in Versöhnung zu münden.

An dieser Stelle überraschte es nicht, dass Kühmel selbst eine von drei Schwestern ist – die Autorin bringt hier eine wunderbare psychologische Komplexität zutage.


Der Text hätte aus meiner Sicht weitere fünfzig bis einhundert Seiten an Umfang benötigt, um die zahlreichen offenen Fragen um den Tod der Mutter zu beantworten, der beanspruchten Komplexität auf der gesamten Figurenebene gerecht zu werden – und das volle Potential aller drei Protagonistinnen auszuschöpfen.

Dennoch gilt meinerseits ebenso: Obwohl weiterhin Verbesserungsbedarf hinsichtlich der Umsetzung ihrer multiperspektivischen Komposition besteht, stellt Kühmels Zweitroman sowohl im sprachlichen als auch im inhaltlichen Sinne eine klare Steigerung ihrer literarischen Fähigkeiten dar.

Dahingehend wird auch der dritte Roman von Miku Sophie Kühmel – trotz eingeschränkter Leseempfehlung für „Triskele“ – mit Sicherheit einen Platz in meinem Regal finden.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Triskele
Autor*in: Miku Sophie Kühmel

272 Seiten | 23,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 10.08.2022
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397111-8

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