DiskursDialog, 2: Über den Begriff der Geschichte. Über das mimetische Vermögen

Die literaturtheoretische Reihe DiskursDialog ist ein Experiment zur Verknüpfung von Leseliebe und wissenschaftlichen Ansätzen für die Begeisterung eines breiteren Publikums für Sachtexte – und zur Förderung einer kritischen Leserhaltung. Relevante Texte renommierter Theoretiker werden aus einer literarischen Perspektive reflektiert, um ihnen einen allgemeineren Resonanzboden zu verleihen.

Heute geht es um das Entstehen einer Geschichte, die Beziehung zwischen Fiktion und Realität – und die Auswirkungen dieser Dynamiken beim Leser. Was müssen ein Text und sein Protagonist tun, um in uns einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen?


© Suhrkamp

Die literaturtheoretischen Erläuterungen zum heutigen Beitrag stammen aus der Monografie „Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa“ mit ausgewählten Texten von Walter Benjamin.

Nachdem Du den Beitrag gelesen hast, freue ich mich sehr auf den Austausch zu den heutigen Themen in den Kommentaren. Deinen Senf zum nächsten Beitrag kannst Du bereits jetzt gerne bei @sandra.falke.libri hinterlassen, denn die Beiträge zum DiskursDialog entstehen immer im Dialog mit meiner dortigen Community.

Von Benjamins thematisch und chronologisch sortierten Texten werden zwei besprochen: Über den Begriff der Geschichte (S. 129–142) und Über das mimetische Vermögen (S. 92–95).


Zunächst einige allgemeine Eingrenzungen. In diesem Beitrag wird der Begriff Geschichte als Reihe von Ereignissen, nicht als Historie oder Studie der Vergangenheit verstanden – denn Benjamin spricht das gesamte semantische Feld des Begriffs in seinen Schilderungen an.

Von Benjamin abweichend könnte man an dieser Stelle auch lediglich von einer Erzählung sprechen. Im Sinne eines Romans sprechen wir dann von Handlungssträngen im Sinne von kausalen Ereignissequenzen, die an unterschiedliche Figuren und ihre Schicksale, Begegnungen und Entwicklungen gebunden sind.

Benjamin spart die Zeit, Begriffe zu erklären, meistens aus: er konstruiert den Zugang zum Begriff der Geschichte über andere Konzepte wie das Glück, die Gegenwart, die Zukunft, das Schicksal. Ebenso spricht er über das Vertrauen zum Erzähler:


Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, […] trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.“1


Im Kontext des Romans denkt man an dieser Stelle sofort an die Rolle des Erzählers und seiner Vertrauenswürdigkeit. Die Ich-Erzählerin in Kazuo Ishiguros Roman „Klara und die Sonne“ zum Beispiel scheint eine überaus vertrauenswürdige, aufrichtige Person zu sein, die sich um eine wahrheitsgemäße Schilderung der Tatsachen bemüht. Ebenso scheint dies der Protagonist in Julian Barnes‘ „Vom Ende einer Geschichte“ (engl.) zu tun. Doch geschehen in beiden Fällen Perspektivenerweiterungen oder -Wechsel, die die Glaubwürdigkeit beider Erzähler:innen zunichte machen.

Ist die hohe Vertrauens- und Glaubenswürdigkeit eines Erzählers also wichtig für ein intensives Leseerlebnis?

Nach Benjamin heißt es, eine Geschichte zu erzählen bedeute, „sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt“ (S. 131). In diesem Kontext wäre ein Erzähler im Roman also gar nicht fähig, objektive Wahrheiten zu schildern, insofern er an der Handlung teilnimmt und selbst im Affekt steht.



Gegenteilig verhält sich der allwissende oder auktoriale Erzähler, indem er sich aktiv von der Handlung abgrenzt und die direkte Kommunikation mit dem Leser aufnimmt – wie etwa in „Gargantua und Pantagruel“, Salman Rushdies „Mitternachtskinder“, Bulgakows „Teufeliaden“ oder Thomas Manns „Zauberberg„. Persönlich finde ich es authentischer und unmittelbarer, der Figur direkt beizuwohnen und würde den allwissenden Erzähler als veraltetes Stilmittel betrachten. Da er zur Authentizität der Erzählung nicht beiträgt und die konstruierte Natur der Erzählung nur betont, wird er im Folgenden außer Acht gelassen.


Wie wird jedoch – in beiden Fällen – die emotionale Beteiligung des Lesers erzielt?

Die zwei miteinander verwandte Begriffe Mimesis (im Sinne von Imitation oder Nachahmung im Verhalten, Reden und Nacherzählen) und Mimikry (im Sinne der Nachahmung von visuellen, auditiven oder olfaktorischen Verhaltensweisen – primär im Tierreich –) weisen beide auf die soziale Notwendigkeit eines Wesens hin, Ähnlichkeiten und Assoziationen zu anderen Mitgliedern im sozialen Netzwerk aufzubauen. In diesem Sinne stehe der Mensch, so Benjamin, weit vorne, wenn es um ein solches Verhalten geht:


Die höchste Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten aber hat der Mensch. Die Gabe, Ähnlichkeit zu sehen, die er besitzt, ist nichts als ein Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten.“2


Der Interpretation von Benjamins Worten liegt die Idee nahe, dass der Mensch als Leser ebenso nach Ähnlichkeiten mit sich selbst im Lesematerial sucht. Allerdings scheint es faktisch in zwei Richtungen zu gehen, wenn ersie sich auf die assoziative Suche innerhalb der Lesereise begibt. Entweder entsteht Sympathie oder Antipathie mit dem Protagonisten – doch wird in beiden Fällen eine direkte (ggf. unbewusste) assoziative Linie zur eigenen Person gezogen.

Muss also der Protagonist dem Leser gefallen?

Nein. Es ist aus rein statistischen Gründen nicht möglich, einen Romanprotagonisten zu schreiben, der mit der gesamten Menschheit resoniert. Allerdings gibt es allgemeinmenschliche Emotionsspektren und Szenarien, die in diverse Situationen eingebaut werden können, um dem Leser die Illusion von emotionaler Empathie zu verleihen. Wenn ein Protagonist eine Entscheidung treffen oder grundsätzlich das für den Leser „richtige“ tun würde, wäre die Assoziation mit der eigenen Person bereits geschehen. Geschlechts-, alters- oder klassenbedingte Identifikationsmerkmale sind in diesem Rahmen nicht notwendig, um die Assoziation zu veranlassen.


Weit interessanter wird diese Dynamik, wenn eine Protagonistin unsympathisch ist. Beispielsweise im neuen Roman „Der Blütenschatten“ von Annalena McAfee wird schnell klar, dass die Hauptfigur weder Anständigkeit noch Empathievermögen noch eine freundliche Ader besitzt. In diesem Fall wird ihr drohender Untergang zur Genugtuung, denn als Leser verfolgt man die Handlung dann als Agent der „Gerechtigkeit“. Die narrativen Signale deuten auf ein äußerst unangenehmes Schicksal der Protagonistin, was im Leser einerseits Freude erweckt, und gleichzeitig die moralische Rechtfertigung dieser Wünsche bietet – weil es sich um Fiktion handelt.

Andererseits bieten der vollständige Abgang von Realität und das Spiel an den Grenzen des Grotesken und des Absurden eine andere Art von Mimesis: ein kathartisches Erlebnis im Sinne des Fremdfühlens wird anhand solcher Lektüre möglich. Beispielsweise der Genuss eines Krimis funktioniert nach diesem Schema: Man genießt die Geschichte, weil man hohe Mengen an Spannung erleben kann, sich jedoch dafür selbst nicht in Gefahr begeben muss. Das Wissen über die eigene Sicherheit verleiht den Mut, die oft grausamen und explizit gewaltvollen Szenarien zu erleben.


Grundsätzlich konstruiert eine Geschichte jedoch auf der Figurenebene Empathie und auf der Handlungsebene Spannung. Die anfängliche Mission eines realistisch veranlagten Romans ist es, den Leser vergessen zu lassen, dass er sich in einer fiktiven Welt befindet und mithilfe von Mimesis vermehrte Assoziationen zwischen Leser, Protagonisten und Erzählwelt herzustellen, um die vollständige Immersion zu ermöglichen.

Konstruierte Literatur, die über die Grenzen dieser Rahmen hinausgeht, organisch werden zu lassen ist allerdings eine hohe Kunst, die die wenigsten beherrschen. Interessanterweise können diese Lektüre auch nicht alle Leser genießen, so wie Unterhaltungsliteratur, die sich in den sogenannten vorgeschriebenen Rahmen bewegt, ein größeres Publikum erreicht. Warum dies Deiner Meinung nach so ist, schreibe mir gerne in den Kommentaren.

Großartige Autor:innen wie Amélie Nothomb, Ottessa Moshfegh, Matias Faldbakken oder Sharon Dodua Otoo beherrschen dieses Handwerk und sind imstande, eine emotional authentische Erfahrung mit gleichbleibend hoher Spannung auf der Handlungsebene zu erzeugen, kompositorisch komplexere Strukturen zu entwerfen und einen außergewöhnlichen Lesegenuss zu bieten. Man muss die Regeln allerdings vorher kennen, um sie brechen zu können.

Somit besteht nun das Potential, dass Du nach einer gründlichen Reflexion Deiner bisherigen Lesegewohnheiten aufgrund der erwähnten Standards und Regeln zumindest auf einer analytischen Basis imstande sein solltest, die oben erwähnten Autor:innen in vollen Zügen zu genießen.


Nun bin ich gespannt auf Deine Meinung zum Thema. Wie muss ein Protagonist sein und handeln, um einem Leser zu gefallen? Welche Mittel darf und darf ein Roman nicht benutzen, um das Gefühl von Echtheit zu vermitteln? Und welche meisterhaften Beispiele für diejenigen Autoren, die diese Rahmen mit Erfolg sprengen, kannst Du mir als Empfehlung weitergeben?

Auf den Austausch in den Kommentaren freue ich mich sehr.


1 – Über den Begriff der Geschichte, S. 130.
2 – Über das mimetische Vermögen, S. 92.

Bibliografie:

Titel: Erzählen – Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa
Autor: Walter Benjamin / Alexander Honold (Hrsg.)
Seitenzahl: 349
Erscheinungsdatum: 27.08.2007
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-29441-3

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1 Antwort

  1. Ich habe jetzt erst den DiskusDialog gefunden. Schade, dass er pausiert, aber d.h. ja, er beginnt irgendwann wieder. Zu Benjamins Begriff der Geschichte fällt mir als erstes ein, dass für ihn der Chronist nicht „historistisch“ verfährt, sondern mit einem Interesse. Als definierendes Prinzip, den Opfern, den vergangenen und gegenwärtigen, eingedenk zu bleiben und ihnen ein Zeichen setzen, findet er darin, eben nicht zu erklären, nicht zu begründen, nicht zu rationalisieren. „Klara und die Sonne“ halte ich für ein hervorragendes Beispiel für eine benjaminische Schreibweise. Ich stimme völlig zu. Ich muss meine Aufzeichnungen zum Begriff der Geschichte mal heraus suchen. Ich erlaube mir einen Versuch über den Begriff der Gewalt anzufügen. Er passt, glaube ich, gut zu den Thesen über den Begriff der Geschichte.

    https://read2write.org/walter-benjamin-zur-kritik-der-gewalt/

    Was ich also sagen wollte, ist, dass Literatur, Erzählen für Benjamin gerade im Nicht-Begründen liegt – sobald nämlich irgendetwas begründet wird, wird es auf welche Weise auch immer gerechtfertigt, und genau darin liegt für Benjamin eine Schuld, die er durch unumwundenes Beschreiben zu entgehen sucht (wie im Passagenwerk).

    Vielen Dank für diesen schönen Post. Gruß aus Berlin.

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    • Danke Dir vielmals für den Zuspruch und die interessanten Ergänzungen. Den Gedanken zu Benjamins Vorgehensweise finde ich definitiv passend – so verhielt es sich auch bei meiner Lektüre von „Ursprung des deutschen Trauerspiels.“ Allerdings, um hier den Bogen noch zu ziehen: „Klara und die Sonne“ fand ich persönlich in vielerlei Hinsicht recht misslungen. Ob mit Benjamin oder ohne argumentiert. 😉
      Liebe Grüße zurück vom Westberliner Randgebiet!

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