Zitateverzehr, 5: Jane Austen

Heute möchte ich euch zu einer ausgewogenen Reflexion zum zeitgenössischen Wert einer Lady einladen, die ihre Werke zu Lebzeiten anonym veröffentlicht hat – und nun zu den bekanntesten Personen in der britischen Literaturgeschichte zählt.

Sind Jane Austens Romane mittlerweile vollständig überbewertet und veraltet – oder tatsächlich relevanter denn je?


Aufgrund der in diesem Blog vor Kurzem erschienenen Beiträgen mit dem Anspruch zur Neuentdeckung kulturhistorischer Räume und Eröffnung neuer Perspektiven aus weiblichen Blickwinkeln gehört die wahrscheinlich bekannteste weibliche Autorin der britischen Literaturgeschichte nun ebenso besprochen.

Weitestgehend stellt sich allerdings zunächst die Frage, wie man sich mit diesen teils sehr langatmigen Brocken anfreunden kann, die Jane Austen geschrieben hat?

Ihr aus sechs Romanen bestehendes Hauptwerk spannt sich über zweitausend Seiten. Zwischen dreihundertfünfzig und fünfhundertfünfzig je Buch, wenn man es ganz genau nimmt.

Charisma, Humor und witzvolle Sprache ergießen sich aus allen sechs. Doch sind manche auch unglaublich langsam im Tempo…

Dieser schöne Schuber beinhaltet das Hauptwerk von Jane Austen und ein substanzvolles Nachwort zu Werk und Leben der Autorin. (© Sandra Falke)

Dennoch ist eine systematische, chronologische Lektüre des Früh- und Spätwerks die empfehlenswerteste Art und Weise, sich Austens Werk analytisch zu nähern.

Vorrangig sind Geduld, Humor und ein kulturhistorischer Scharfblick notwendig.

Eine Vorab-Lektüre zur Biografie und Hauptmerkmalen der Autorin hilft bei der Analyse sehr – weswegen ich über die Möglichkeit, die großen Romane in einem kontextuellen Zusammenhang kennenzulernen, sehr froh war.


Ihre Heldinnen sind nicht länger farblose Unschuldsengel in der Art des sentimentalen Frauenideals, sondern verkörpern die weibliche Seele in unzähligen Schattierungen.“(Emma, 547)


Die schönen Verfilmungen von „Stolz und Vorurteil“, „Verstand und Gefühl“ sowie die neueste Version von „Emma“ sind ästhetisch genussvoll und bieten meistens zur Weihnachtszeit erbauliche Unterhaltung für die ganze Familie.

Doch wieso wäre eine kritische Lektüre der Autorin für Leser:innen des 21. Jahrhunderts an dieser Stelle als erhellend zu bezeichnen?

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Wer denkt, dass der Bogen ins 20. Jahrhundert weit genug gezogen ist, wenn es um kulturhistorische Kontextualisierungen moderner Literatur geht, liegt falsch.

Wie bereits in Pankaj Mishras Essayband „Freundliche Fanatiker“ verdeutlicht wurde, haben Entwicklungen wie die Geburt von Feminismus, die Zerbröckelung einer von Konventionen getragenen Klassengesellschaft und viele andere soziokulturelle Prozesse, die sich noch in unserer Zeit austragen, viel, viel früher begonnen als wir uns auf den ersten Blick vorstellen würden.

Als weiteres Beispiel aus meinen letzten Sachbuchlektüren hat der Essayband „Philosophinnen“ Räume gezeigt, in denen Frauen sich von Anbeginn der europäischen Kulturgeschichte wie wir sie jetzt kennen, bewegen – im Gegenteil zu den dort gemachten Beobachtungen fungieren die Romane von Austen als Beispiele derjenigen Räume und Möglichkeiten, die den meisten von ihnen noch im 19. Jahrhundert geschlossen blieben.

Zum Frühwerk Austens gehören die Romane „Verstand und Gefühl“, „Stolz und Vorurteil“ und „Die Abtei von Northanger“, wohingegen die Romane „Mansfield Park“, „Emma“ und „Überredung“ zum Spätwerk zählen und verstärkt gesellschaftspolitische Themen aufgreifen.

Zwar schrieb die Autorin vorwiegend über die Gentry, den britischen niederen Adel, doch ist die Ironie der Tatsache, dass ein angeborener sozialer Status nicht immer mit Wert verbunden ist, solange man nicht genügend Kapital mit sich bringt, ebenso ausgesprochen interessant für ein besseres Verständnis der Lebenszeiten der Autorin.


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Insofern ihre Heldinnen meistens eigensinnig sind, eher aus dem Herzen handeln und somit konfliktreiche Leben führen, betreibt Austen tiefgreifende Gesellschaftskritik. Wie im Nachwort erwähnt, werden die Eltern der Heldinnen meistens entweder im Charakter oder bezüglich gewisser Verhaltensweisen als fehlerhaft dargestellt, was das Merkmal einer progressiven Ader ausmacht. Die Jugend steht als agierende Einheit dar und befreit sich nach und nach aus den Zwängen der expliziten und impliziten Konventionen.

Wie diese Befreiung für ein Individuum schließlich aussieht, kann in unterschiedlichsten Variationen ausgetragen werden.


it is with Jane Austen that the novel takes on its distinctively modern character in the realistic treatment of unremarkable people in the unremarkable situations of everyday life.“(Britannica)


So ist Jane Austen selbst wie die Philosophin Diotima einzuschätzen, die ihre geistige, künstlerische Schöpfung als ihre Kinder verstand, aus, von und in Literatur leben – und keine Zweckehe eingehen wollte, um den Wünschen ihres Vaters nachzugehen oder sich aus einer finanziell ungünstigen Lage zu befreien.


Ist es also bedenklich, dass ihre Romane weiterhin einen Kultstatus genießen?

Keineswegs.


Das veraltete soziokulturelle Milieu kann jungen Erwachsenen in Leserunden sogar für Vergleiche und Kontrastierungen derjenigen Aspekte einer weiblichen (und männlichen) Existenz dienen, die noch als aktuell und zeitlos zu deuten sind – nebst den kulturhistorischen Aspekten, die mittlerweile als veraltet gelten.

Zumal alle ihre Romane in einem unglaublich charismatischen, leicht zu lesenden, klugen Stil zu lesen sind. Sowie die gut gelungenen Übersetzungen.

Dass Individuen im Entwicklungsalter einen Schub benötigen, um die Heldin in sich selbst zu finden, gilt für jedes Jahrhundert als ein normales, allgemeinmenschliches Phänomen. Wenn dieser von einer selbstbewussten, charismatischen, intelligenten Autorin stammt, deren Heldinnen bereits vor dreihundert Jahren nach niemandes Pfeife tanzten, bietet sich eine Leserunde mit Gespräch umso mehr an.

Gerade die Tatsache, dass hier keine konventionellen Liebesgeschichten Bewunderung und Idealisierung finden; dass das day-to-day eines herkömmlichen Menschenlebens, die wilden und auch die zahmen jungen Damen mit ihren Stärken und Schwächen im Detail gezeigt wird und werden – realistischere Perspektiven wird man auf Instagram oder YouTube nicht finden können.

Mütter, kauft euren Töchtern lieber diesen Schuber und lest ihn zusammen.


Welchen Roman von Jane Austen muss man Deiner Meinung nach unbedingt gelesen haben? Ist die Beliebtheit der Autorin auch im 21. Jahrhundert gerechtfertigt?


Auf Deine Gedanken zum Thema freue ich mich sehr.

Hier geht’s zur Leseprobe.


Bibliografie:

Titel: Die großen Romane (6 Bd.)
Autor:in: Jane Austen
Seitenzahl: 2.608
Erscheinungsdatum: 07.09.2011
Verlag: Anaconda
ISBN: 978-3-86647-707-0

Beitragsbild © Suzy Hazelwood / pexels.com.


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1 Antwort

  1. Ähnlich wie du denke ich, dass es immer noch durchaus fair ist, dass Jane Austen heute gern gelesen wird. Sowohl schwärmerisch-eskapistischem (warum nicht?) als auch um das Gelesene zu diskutieren und den Vergleich zu heute zu ziehen.
    Dass über Literatur zu reden ein großer Mehrwert ist, insbesondere, wenn das Buch „Nix für einen ist“ oder man meint es nicht verstanden zu haben, habe ich durch den Buchclub und Blog gelernt. Oder Blogs allgemein natürlich.
    Gerade für Teens, Twens, was auch immer ist es denke ich schon interessant den „Diff“ zum heute zu ziehen. Also die Unterschiede im gesellschaftlichen Usus und der Emanzipation zu sehen. Selbst wenn es ein „It could be worse“ ist, ist das vllt schon viel wert für einen Erstkontakt mit Feminismus. Ob aber Jane Austen dazu „cool“ genug definiert wird? Ich fürchte da liegt viel Verantwortung bei Eltern und Schule.

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