Drei Kurzrezensionen, Edition Krise: „Young Mungo“, „Das Flüstern der Feigenbäume“ und „Aleksandra“


Märchenhafte menschliche Panoramen, historische Jahrhundertromane – und erschütternde Liebesgeschichten. Im heutigen Beitrag aus der Reihe „Drei Kurzrezensionen“ teile ich meine kompakten Eindrücke zu drei vor Kurzem gelesenen Romanen, die sich mit Umbruchszeiten in von Krisen und Kriegen geprägten Gebieten beschäftigen.


Zusätzlich zu den regulären ausführlichen Buchbesprechungen erscheinen seit Kurzem unter dem Serientitel „Drei Kurzrezensionen“ gebündelte Momentaufnahmen. Diese Texte entstehen meist als unmittelbare Eindrücke direkt während oder kurz nach der Lektüre und sollen lediglich eine Impression des jeweiligen Buchs darstellen. Weiteres können wir bei Interesse sehr gerne in den Kommentaren besprechen und ausführen.

Im heutigen Beitrag habe ich meine Gedanken zu drei lesenswerten Romanen gebündelt, die sich mit dem Themenkomplex „Krise“ beschäftigen. Sowohl weltgeschichtlich prägende Ereignisse wie die Weltkriege als auch lokale Dissonanzen und tragische Episoden wie Bürgerkriege und Revolutionen werden von den drei besprochenen Romanen behandelt. Ebenso zeigen sie alle die bewundernswerte Resilienz von Liebenden auf.


Douglas Stuart: „Young Mungo“
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz


© Hanser Berlin

Ein junger, wunderschöner, femininer, zerbrechlicher, schüchterner Protagonist, der sein wahres Wesen vor seinem gesamten Umfeld verstecken muss – da seine Queerness zu offenbaren in dieser Stadt zu dieser Zeit lebensgefährlich ist.

Eine naive Liebe zur selbstischen, ständig betrunkenen Mutter.

Die blutigen Straßen von Glasgow, Rivalitäten zwischen Celtics und Rangers, Katholiken und Protestanten. Männern und denjenigen, die nicht als solche betrachtet werden.

Steche zu oder du stirbst.

Eine tragische Liebesgeschichte inmitten eines hypermaskulinen Stadtpanoramas. Lektüre mit Flauschdecke und Taschentüchern empfohlen.


Kommt Dir irgendwie bekannt vor? Ist es aber nicht.

Auch wenn diese zerbrechlich anmutenden gutmütigen Jungen, Shuggie Bain und Mungo, sich auf den Straßen von Glasgow in den 1990ern begegnen und in puncto unerschöpfliche Mutterliebe stundenlang stemmen könnten, während ihre Maws einander die Haare machen und je eine Flasche Vodka vernichten, existieren Douglas Stuarts herzzerreißende literarische Innenwelten weit voneinander getrennt.

Prämisse, Dynamiken, Crux, Komposition – Stuart hat mit seinem Zweitwerk in vielerlei Hinsicht ein neues Level erreicht, spricht darüber hinaus aber auch vollständig unberührte Themenbereiche aus der zunehmend grausamen Tristesse seiner Heimat an. Die Romane vervollständigen einander, berühren einander – und leben dann weiter still die Gemüter von Lesenden zerschmetternd vor sich hin.

„Young Mungo“ ist die Geschichte eines Jungen, der durch unglaubliche Schmerzen zu einem Mann wird. Der durch die Härte der Straßen das Rückgrat entwickelt, welches Glasgower Männer in den ewigen Gewalt- und Armutszyklus stolpern und fallen lässt. Der von seinen Geschwistern auf ihre respektive Art und Weise zur Entfaltung ermutigt wird.

Mungo durchsteht die grausamste Tortur, nimmt die schlimmste Schuld auf sich – und bleibt sich seiner Liebe sicher. Die Kontraste dieser aufrüttelnden Erzählwelt werden bei jeder Reflexion intensiver, mit jeder Nuance furchtbarer. Und fesseln nach der Lektüre noch viel fester.

Auf das Fundament einer Romeo-und-Romeo-Geschichte baut Stuart eine komplexe Figurendynamik, denn ebenso facettiert wie der Protagonist sind sein trotz – oder wegen – seines Äußeren zum erbarmungslosen Anführer erwachsener älterer Bruder und seine intelligente, ambitionierte – und doch tragisch naive – ältere Schwester.


Fazit: Gerade die Ambivalenz und die erzählerische Neutralität machen „Young Mungo“ so interessant. Familieninterne Oppositionen, spannende Nebenfiguren, düstere und authentische Erzählkulissen lassen die Geschichte weiter leben, tiefer gehen – und zu einem der faszinierendsten Romane dieses Jahres werden.

Mehr wird hier nicht verraten. Unbedingt lesen! Dann nochmal lesen!

Hier geht’s zur Leseprobe.



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Elif Shafak: „Das Flüstern der Feigenbäume“
Aus dem Englischen (UK) von Michaela Grabinger


© Kein & Aber

Drei Geschichten, drei Historien und drei Generationen bindet Elif Shafak in diesem auf und um Zypern spielenden historischen Roman zusammen.

Es geht um die blutige und tragische Historie und die gespaltene Identität der Insel, um die seelische Auseinandersetzung der jungen Ada mit der Trauer um den Tod ihrer Mutter – und die fesselnde Liebesgeschichte von Adas Eltern.

Elemente des magischen Realismus wurden der ansonsten historisch anlehnenden Erzählwelt hinzugefügt:

Einer der Protagonisten ist ein Feigenbaum, der als auktorialer Erzähler über die Historie der Insel wacht, die im Wechsel zwischen mehreren Erzählorten statt findenden Ereignisse vollständig kennt – und zahlreiche Lücken in der Chronik der komplexen Familienbeziehungen zu füllen weiß.

So lernen Lesende parallel einiges über Feigenbäume, Weltgeschichte, das gespaltene Zypern – und den immensen Mut menschlicher Seelen.

Die sehr kurz gehaltenen Kapitel und ständiger Wechsel von Zeit und Ort können einerseits störend sein: Stellenweise wird die gerade interessant werdende Handlung abrupt unterbrochen. Sprachlich bewegt Shafak sich zwischen Intensität und Kitsch: oft klingt ihr Text wie ein sentimental anmutender Zitatkonglomerat. Andererseits fördern die nachdenklichen Formulierungen und aussagekräftigen Sätze ein ruhigeres Lesetempo und entwickeln einen ganz besonderen emotionalen Sog.

Grundsätzlich liest sich „Flüstern“ also sowohl stilistisch als auch sprachlich wie magischer Realismus vom Feinsten und erinnert an Anthony Doerr oder Markus Zusak. Im Großen und Ganzen ist Shafaks Sprache tiefgründig und feinfühlig, trotz gelegentlicher pathetischer Belastung.

Die erzählerische Prämisse und die Idee, eine detailreich dargestellte historische Entwicklung voller grausamer Taten, Konflikte, Schlachten und blutiger Kriegsverbrechen mit zauberhaften Elementen wie einem denkenden und kommunizierenden Feigenbaum auszubalancieren, sind an sich hervorragend. Ebenso eignet sich der Feigenbaum als Zeitzeuge, zusätzliche Erzählerin und – nüchtern betrachtet – als unproblematisches plot device.

Shafak verzaubert mit ihrer Geschichte immer wieder. Und doch verbleibe ich nach der Lektüre im Zwiespalt, da sowohl der Ausgang als auch diverse Szenen in meinen Augen sprachlich sowie inhaltlich sehr übertrieben ausgeführt worden sind (argumentativ wäre der Anspruch, grausame Offenbarungen und unmenschliche Gräueltaten emotional besser verarbeiten zu können, gerechtfertigt – doch bei sprechenden und lesenden Tieren hat mein Kitsch-Melder dann doch ordentlich Alarm geschlagen).


Fazit: Ich empfand Shafaks Sprache als wunderschön – und ihre Art, mit heiklen Themen auf märchenhafte Art umzugehen, grundsätzlich gelungen. Deswegen freue ich mich auf die nächste Lektüre von der Autorin, obwohl mir zahlreiche Aspekte bei dieser Lektüre zu sehr ins Kindliche verschwammen. Ein Blick in die Leseprobe lohnt sich allenfalls.

Hier geht’s zur Leseprobe.


Lisa Weeda: Aleksandra“
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann


© Kanon Verlag

In einer szenischen, ambitionierten und symbolstarken Ausarbeitung der eigenen Familiengeschichte tritt Lisa, die Protagonistin des Romans, eine hochgradig gefährliche Reise an.

Sie riskiert Kopf und Kragen, weil ihre Großmutter Aleksandra es ihr zur Aufgabe gemacht hat, ein anderes Familienmitglied vor der sicheren Verdammnis zu retten.

Humorvoll und aussagekräftig lässt Weeda Lesende direkt am Grenzübergang nach Ukraine einsteigen, als ihre Protagonistin die Soldaten von der Wichtigkeit ihrer Mission zu überzeugen versucht: Sie muss ein Leinentuch zum Grab ihres Cousins bringen, um „die Zeit zu flicken“ (S. 15).

Mutig und ihrer Sache sicher, kämpft Lisa um den Eintritt ins Kriegsgebiet, um einen weiteren Schritt auf dem schwierigen Weg zu Kolja – und landet während einer hektischen Hetzjagd plötzlich in einem Palast.

Der „Palast des verlorenen Donkosaken“, in dem Lisa zahlreichen Familienmitgliedern begegnet, lässt an Bulgakow, Gogol und Ristikivi denken – und bringt gar Assoziationen mit chinesischer Literatur in den Sinn, in der die Türen zwischen Geistern und Lebenden meist nicht abgeschlossen werden.

Die Irrungen und Wirrungen zwischen Schlüsselmomenten ukrainischer Historie und Szenen aus dem familiären Alltag – Geschichte wiederholt sich auf beiden Ebenen – kreieren einen starken Zwiespalt: zwar ist Weedas Schreiben Szene für Szene imposant, fesselnd und intensiv, doch verweigert sie es ihrer Leserschaft, auf beiden Ebenen Fuß zu fassen und sich zu orientieren.

So glich mein Leseeindruck einer von einer reizenden Großmutter gestarteten Diashow. Es werden zwar zahlreiche beseelte Momente, aufrüttelnde Krisensituationen und generationenübergreifende Trauer gezeigt, die die Geschichte einer mit Humor und Charakter beschriebenen Familie erzählen – doch lassen die szenische Art, die fehlenden Handlungslinien und die historische Reichweite Lesende nur mit einer halben Einladung ins Familienleben zurück.

Auch wenn diese – wie ich – sich stark mit diversen Figuren aus dem Roman identifizieren können, da ähnliche Anekdoten und Erinnerungen an großelterlichen Tischen innerhalb der gesamten Sowjetunion erzählt worden sind.


Fazit: Lisa Weedas Schreibkunst hat mich beeindruckt, gefesselt und mir imponiert. Zum Beginn der Lektüre notierte ich noch, dass Respekt dem stringenten Umgang mit hochgradig traumatisierenden Familienereignissen gelten sollte. Doch möchte „Aleksandra“ schlussendlich so viel aussagen, dass die eindrucksvolle erzählerische Zugfahrt ab einem gewissen Punkt zu einem Karussellrummel wird – dessen Tempo und unberechenbarer Rhythmus einen Ausblick und einen Durchblick verhindern.

Dass auch in dieser Aussage eine Resonanz zur ukrainischen Identität zu finden ist – gefangen und malträtiert, zwischen Krisen, Besetzern, Kriegen, Hunger und Tod, aufgeteilt in Fragmente einer vollwertigen Person, aufgeteilt von anderen Mächten, unfähig sich als Individuen zu fühlen, frei zu sein oder zu entfalten, gezwungen zu fliehen – mag schlussendlich die tiefere Pointe von „Aleksandra“ sein.

Doch wäre diese Erkenntnis aus meiner Sicht auch in wenigeren Schritten zu erreichen, da sie auch so unübersehbar ist. Spätestens nach dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, zu deren Jahrestag am 24.02. „Aleksandra“ in deutschsprachiger Übersetzung erschien. (Eine bittere persönliche Ironie ist, dass sich an diesem Tag auch die erste Unabhängigkeit Estlands jährt).

Daher empfehle ich auch an dieser Stelle, selbstständig zu entscheiden und den Blick ins Buch zu wagen.

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