Das literarische Jahr 2024 war ein vielfältiges, spannendes und inspirierendes. Über 100 Bücher, Lektüren in vier Sprachen, zahlreiche literarisch bereiste Länder und behandelte Ereignisse sowie Epochen machten mein Lesejahr 2024 aus.
Im Folgenden möchte ich einige meiner literarischen Lichtblicke des vergangenen Jahres zeigen – Sachbuch und Belletristik, die mich gefesselt und begeistert haben und die ich als hervorragende Lektüren, Buchtipps mit Nachdruck, uneingeschränkte Leseempfehlungen einstufe.
Vorab möchte ich darauf hinweisen, dass ich die diesjährigen Jahreshighlights im Bereich Non-Fiction und Lieblingsbücher aus dem Bereich Belletristik ausführlich auf meinem YouTube-Kanal bespreche und vorstelle, die entsprechenden Videos verlinke ich am Ende des Beitrags.
Elif Shafak: „Am Himmel die Flüsse“

Die preisgekrönte britisch-türkische Schriftstellerin Elif Shafak gehört zu den bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart. Ihre Bücher wurden in 57 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Shafak promovierte in Politikwissenschaften sowie in Humane Letters am Bard College und lehrte an verschiedenen Universitäten in der Türkei, den USA und in Großbritannien. Sie ist Vizepräsidentin der Royal Society of Literature.
Mit ihrem neuesten Roman „Am Himmel die Flüsse“ (There are Rivers in the Sky), übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger, gelingt es Elif Shafak mit einer sagenhaften Leichtigkeit, die innere Magie der menschlichen Natur mit der komplexen Wandlungsgeschichte der menschlichen Kulturen zu kombinieren – und währenddessen eine fantastische Erzählung zu komponieren.
Die Zusammenhänge, die sichtbaren und unsichtbaren Bindungen zwischen den drei Figuren sind in Teilen unerwartet, in Teilen erschütternd – und in Teilen auch sehr auffällig konstruiert – doch immer irgendwie interessant. Die Feinheiten, selbst die des augenscheinlich Konstruierten, erweisen sich mit jeder weiteren Reflexion als sorgfältig durchdacht und grundlegend faszinierend.
Im Vordergrund stehen die figurenpsychologischen Entwicklungen, die Bindung der Figuren zueinander, die wissenschaftliche Historie des Wassers und der Flüsse weltweit, die prekäre Beziehungsgeschichte von Menschen und Wasser – und das Gilgamesch-Epos.
Der Roman liest sich in Teilen als Liebeskind von Charles Dickens und Anthony Doerr – ist aber voll und ganz als Meisterwerk der einzigartigen Elif Shafak zu erkennen.
Martina Hefter: „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“

Martina Hefter lebt als Autorin und Performerin in Leipzig. Ihre Texte bewegen sich zwischen Gedicht, szenischen Schreibformen und Roman. Viele ihrer Texte setzt sie in Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen szenisch um. Hefter veröffentlichte bisher drei Romane und fünf Gedichtbände, ihre Lyrik erscheint im kookbooks Verlag. Für ihren letzten Roman, „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“, erhielt sie 2024 den Deutschen Buchpreis.
Augenscheinlich liegt der Hauptfokus von „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ auf dem Themenkomplex Love-Scamming. Diese mittlerweile gut beleuchtete Ecke des Internets galt viele Jahre lang als eine hinterhältige Dunkelkammer für Unwissende und online Unbewanderte und inspiriert bis dato spannende Geschichten.
Doch birgt Hefters Buch wesentlich mehr an thematischer Bandbreite, diskursivem Material und Resonanzboden, als im Pressetext geboten. Es spiegelt unglaublich viele Facetten und Brennpunkte der aktuellen deutschen Gesellschaft wieder, parasoziale Beziehungen gehören lediglich dazu.
Die Komplexitäten dieser Einsamkeit – und der gemeinsame Kampf um die Autonomie Jupiters – sind in meinen Augen das eigentliche Kernstück von „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“. Hefters Darstellungen, die Komplexitäten Junos, sind herzzerreißend und inspirierend zugleich: sie lässt sich tätowieren, bietet Leipziger Neonazis die Stirn, kritisiert lautstark soziale Ungerechtigkeit – und tanzt sich mit einer geradezu unmöglichen Leichtigkeit durchs Leben, auch wenn das, was zu Hause passiert, immer wieder auf sie einschlägt.
Der gemeinsame und der einsame Kampf bestehen aus guten und schlechten Tagen – die Martina Hefter im Allgemeinen und im Besonderen hervorragend einfängt. Jupiter ist nicht nur Anhängsel, nicht nur ‚der Kranke‘, auch auf seine Gedanken und Person wird eingegangen. Als Autor ist Jupiter erfolgreich, die Nuancen dieser beruflichen Realität, der Sichtbarkeit in einer Nische in Gegenüberstellung mit der Unsichtbarkeit in der Gesellschaft, werden ebenso feinfühlig berücksichtigt.
Martina Hefters einfühlsame Art und Weise, sich souverän mit entsetzlichen Themen an den Schreibtisch zu setzen und diese nach und nach, still und ruhig lächelnd, zu verarbeiten, ist nicht weniger als enorm beeindruckend.
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Iida Turpeinen: „Das Wesen des Lebens“

Iida Turpeinen legt in ihrem Roman „Das Wesen des Lebens“ gekonnt wissenschaftliches, naturhistorisches und universalmenschliches Material zu- und ineinander. An den Spuren der Stellerschen Seekuh entlang segelnd enthüllt sie diejenigen Schicksale, die mit dem ausgestorbenen Tier verbunden waren – und kreiert Abenteuer, die auf den drei Jahrhunderte umfassenden historischen Pfaden literarisch-realistisch wahrzunehmen wären.
Sowohl bekannte Wissenschaftler und ihre in der Wissenschaftsgeschichte außen vor gelassenen Helferinnen als auch wahre Ereignisse bündelt Turpeinen in ihrem dynamischen Panorama. Von Kamtschatka im Jahr 1741 über die Südostküste Alaskas 1859 bis hin ins naturhistorische Museum in Helsinki in unserer Zeit verfolgt die Autorin dasjenige, was die Historie einer ausgestorbenen Tierart für Wellen in der Menschheitsgeschichte ausgelöst hat, und wie die Diskurse rund um den Themenkomplex Umweltschutz geprägt worden sind.
Doch ist „Das Wesen des Lebens“ vorrangig keine wissenschaftliche Abhandlung: Dieses Buch ist eine packende Abenteuergeschichte. Von lebensgefährlichen Fahrten in frierenden Ozeanen, Schiffbruch auf unbekannten Inseln, bewegenden Begegnungen mit außergewöhnlichen Teilen der Natur – Turpeinen beschreibt auf fesselnde Art und Weise die schillernden und elenden Momente großer Forscher und Entdecker, nimmt Lesende mit auf hohe See, in eisige Gebiete und exotische Klimazonen.
Ebenso untersucht sie die psychologische Komponente der Faszination von Forschenden mit ihrem Fachbereich, vor allem den Wahn um eine ‚lebendige‘ Dokumentation des Gesehenen und den unermüdlichen Willen, das festgehaltene Statische als dynamisch zu präservieren. In diesem Kontext wird auch aus diversen Perspektiven auf den gewählten Titel eingegangen, der überraschend viel Interpretationsboden bietet.
Obwohl die behandelte Zeitspanne und thematische Vielfalt auf den ersten Blick etwas unübersichtlich erscheinen mögen, hat Turpeinen ihren Text hervorragend komponiert, aus vielen Informationen einen zusammenhängenden Themenkomplex gewoben und einen Roman verfasst, der sich nicht aus der Hand legen lässt – bis zur letzten Seite.
Besonders wer „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny und/oder „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann gerne gelesen hat, wird hier einen absoluten Leseschatz vorfinden.
Eine ausführliche Besprechung aller meiner Jahreshighlights im Bereich Belletristik findest Du auf meinem YouTube-Kanal. Ich freue mich auf Deine Gedanken in einem Kommentar.
Sofi Oksanen: „Putins Krieg gegen die Frauen“

Die finnisch-estnische Schriftstellerin und Dramaturgin Sofi Oksanen ist vor allem für ihren dritten Roman „Fegefeuer“ bekannt, der in über vierzig Ländern erschienen ist. Die Autorin wird sowohl mit Margaret Atwood als auch mit Charles Dickens verglichen. Ihre Romane spielen allerdings in Estland, Finnland – und im letzten Roman „Hundepark“ auch in der Ukraine.
Der Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“, übersetzt von Angela Plöger und Maximilian Murmann, obduziert bekannte und weniger bekannte Facetten der russischen Propagandamaschine, analysiert soziopolitische Zusammenhänge zwischen den Eroberungen des russischen Kolonialimperiums, der Sowjetunion und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine – und stellt viele persönliche Bindungen zur eigenen Familiengeschichte her.
Mit einer beeindruckenden Bandbreite zeigt Oksanen zunächst auf, wie und warum osteuropäische Geschichte in westlichen Perspektiven und Veröffentlichungen kaum Beachtung findet; wie die Zeitgeschichte dieser Länder weiterhin als zweitrangig gilt und wie gesamtgeschichtliche Zusammenhänge auch in aktuellen Analysen selten behandelt werden.
Sie hebt in diversen Kontexten kritisch hervor, wie die „entmenschlichende Rhetorik der Sowjetunion die Menschenrechtsverbrechen im Ostblock“ (100) rechtfertigte und wie diese Ereignisse zu keinem Lehrplan westlicher Länder gehören.
Des Weiteren erörtert Oksanen die in den ehemaligen Sowjetländern weiterhin gängige frauenfeindliche Rhetorik; beispielsweise das Sprichwort wer liebt der schlägt und weitere Verwandte Ausdrücke als Indiz der normierten Umgangsweise russischer Männer mit Frauen (141) sind auch in meinem estnischen Umfeld nicht unbekannt.
Ebenso ist es enorm interessant zu lesen, warum und wie Putins Karriere eigentlich begann (180ff.) – denn obwohl Oksanen einen langen und facettenreichen Weg über vorrangig kulturhistorische und soziopolitische Kapitel geht und über viele osteuropäische Länder sowie russische Historie spricht, gelangt sie im letzten Drittel des Essays zu Putins Werdegang, Persönlichkeit, Sozialisierung und Innenwelt.
Somit mag der Titel des Essays zum Beginn der Lektüre zwar etwas verwirrend klingen, doch steht an dieser Stelle ganz klar fest, dass ebendiese Aspekte des Krieges Schlüsselelemente sind und unbedingt, dringend, gesehen werden müssen. Somit wird Oksanen den thematischen und inhaltlichen Ansprüchen des üppigen Essays mehr als gerecht.
Sofi Oksanens Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“ ist ein gehaltvoller, enorm informativer, spannender, erhellender und kühner Essay – und somit genau derjenige Spiegel, den Westeuropa aktuell benötigt. Als Estin habe ich aus diesem Buch unglaublich viel gelernt, somit können Westeuropäer*innen hier sicherlich eine noch größere Bereicherung finden. Daher spreche ich an dieser Stelle eine eindeutige Leseempfehlung mit Nachdruck aus.
Eine ausführliche Besprechung aller meiner Jahreshighlights im Bereich Sachbuch findest Du auf meinem YouTube-Kanal. Ich freue mich auf Deine Gedanken in einem Kommentar.
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