Literarische Abenteuer. Der Lesemonat im Rückblick, 09/2020

Und schon ist er vorbei…

Im Monatsrückblick lasse ich nochmal die Leseerlebnisse und -Eindrücke der vergangenen Wochen Revue passieren.

Die Buchvorstellungen der Monatsrückblicke sind kurz und bündig – zur tiefergehenden Rezension und Analyse folge dem jeweiligen Link hinter den Buchtiteln.

Hier sind meine Gedanken zum Lesemonat September.



Judy Blume: Tiger Eyes (1981)



Obwohl Tigerauge ein YA-Buch ist, werden hier zahlreiche Themen angesprochen, die mit emotionaler Arbeit verbunden sind: Wut, Trauer, Verlust eines Elternteils, damit verbundene Ängste und allgemeine geistige Gesundheit sind nur einige der angeschnittenen Kernfragen.

Darüber hinaus spricht die Autorin in ihrem Roman aber auch über gesellschaftliche Gleichberechtigung, die soziale und wirtschaftliche Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner und den offensichtlichen Rassismus in den Südstaaten.


Ihre Protagonistin Davey ist ein Individuum mit starker Persönlichkeit, sodass die üblichen Verlockungen, die manch anderen Teenager ablenken könnten, keine Auswirkung auf die haben. Andererseits findet das Mädchen beim Besuch ihrer Tante und ihres Onkels eine neue Bindung zur Natur und zur Wildnis, was ihren Fokus grundlegend verändert. Und dann ist da natürlich Wolf…


Da dieses Buch für junge Erwachsene gedacht ist, werden keine weiteren fatalen Komplikationen in die Geschichte eingebaut: die Familie findet zueinander, emotionale Heilung wird angestrebt und abgeschlossen, und niemand nimmt sich aus großer Trauer das Leben.

Tigerauge ist im Großen und Ganzen eine schöne, kindlich-romantische Geschichte über den Ernst des Lebens und den Weg zurück zu sich selbst, und für ein jüngeres Publikum sicherlich zu empfehlen.



Kristof Magnusson: Ein Mann der Kunst (2020)



Als ein Frankfurter Museums-Förderverein die unerwartete Erlaubnis erhält, den exzentrischen, in Isolation lebenden Malerfürst KD Pratz auf seiner Burg Ernsteck im Rheingau zu besuchen, erfährt Bauingenieur Constantin erster Hand, was im Kopf eines angeblich außergewöhnlichen Künstlers wirklich vorgeht.


Wider aller Erwartungen entpuppt sich: Auch weltberühmte Einsiedler können Verletzlichkeit empfinden. Ein Wirbelwind an Persönlichkeiten, Egos und ideologischen Überzeugungen führt zu Interpretationen, Gesprächen, Beleidigungen, Selbsterkenntnissen – und neuen Freundschaften.

Bereits auf den ersten Seiten startet die Erzählung mit einem ambitionierten Tempo. Im Laufe der Erzählung legt es sich jedoch zugunsten von Charaktervielfalt und humorvollen Verzierungen. Kein Aspekt der Geschichte kommt zu kurz; Magnusson hat auf seine Erzähl- und Schreibqualität offensichtlich stets Acht gegeben.


Der Autor schafft es, zwischen Humor und Sinngehalt zu balancieren und bedenkliche Ereignisse in einen humorvollen und erzählerisch hervorragenden Text zu verpacken. Gedanken zum Künstlertum, zum Museumswesen und zum Sinn, Zweck und Gehalt von Kunst werden hier in einem köstlich ausgeschmückten Text dargelegt, in dem jedes Ereignis meisterhaft getaktet und auf alle Kleinigkeiten bezüglich der Figurendynamiken und Narrative eingestellt ist.

Magnusson kann hervorragend erzählen und schreiben, Ein Mann der Kunst ist in jeder Hinsicht lesenswert.



Elizabeth McNeill: ‘Nine and a Half Weeks: A Memoir of a Love Affair (1978)


Der stark autobiografische Roman von Autorin Ingeborg Day erzählt über eine kurze – neuneinhalbwöchige, um genau zu sein – sadomasochistische Affäre zwischen einer Galeriebesitzerin und einem Makler in New York.

Ihr Schreibstil intensiviert die bereits an sich provokante Thematik noch weiter: der Roman beginnt mit der Beschreibung einer Vorspiel-Situation, in der er auf sie Dominanz ausübt.


Für romantische Blicke oder emotionale wie körperliche Nachbehandlung werden innerhalb der gesamten Erzählung keine Auszeiten genommen: Der Roman springt in einem rasanten Tempo von Akt zu Trauma, von beginnender Heilung zum nächsten Akt, und so weiter – und dies mit steigender Intensität.


Da die gegenwärtig gelesenen Bücher zum Thema sexuelle Vorlieben, Lust, Schmerzen und BDSM sich eher auf mittelmäßige Veröffentlichungen wie 50 Shades of Grey berufen, ist es angenehm, eine echte Darstellung von Machtspielen im Bett zu lesen, die vor allem auf wahren Begebenheiten beruht. Dass es jedoch sowohl emotional als auch körperlich gefährlich und heikel werden kann, wenn man sich unwissend einer fremden Person aussetzt, ist ein Aspekt, den zu betonen es ebenso wichtig ist.


Die unglücklich endende Geschichte von McNeill / Day ist eher als Mahnung zur Vorsicht gedacht: Hier wird auf eine psychologisch kluge Art erklärt, worin die Motivation hinter der Affäre besteht, warum sie einerseits höchst genießbar ist und welche Gefahren es andererseits zu vermeiden gilt. Romantisierungen sind ausgeschlossen, doch eine Anatomie der Lust an Schmerz und Machtspielen wird auf eine interessante und realistische Art beschrieben. Bücher solcher Art sind auch Jahre später noch selten und wertvoll.

Alles im allem ist dieser Roman ein zeitlos wertvolles illustratives Beispiel für jeden Leser, der an der Dynamik von Sex, Macht, Lust und Schmerz interessiert ist. Doch rate ich ebenso zur Vorsicht bei der Lektüre, denn die Geschichte wird nach dem Lesen noch lange in euren Gedanken bleiben.



Gabriele Kögl: Gipskind (2020)


Gabriele Kögl hat mit Gipskind (2020) einen Roman geschrieben, der brutal und liebenswert, ungewöhnlich und universal zugleich ist. Zunächst ein polarisierendes Buch also.

Andreas Kindheit und Jugend können durchaus beschrieben werden als außergewöhnlich, voller Abenteuer, Erlebnisse, plötzliches Bauchkribbeln und bereichernden Herausforderungen – jedoch sind diese Erinnerungen nicht mit nostalgischer Freude zu assoziieren, sondern an nagende Traumata gebunden.

Zu früh entdeckt das Mädchen, wie sie mit ihrem wachsenden Busen auf einmal Männern auffällt – Für einen Kredit ist es ihrer Mutter nicht zu schade, Andreas Unschuld ohne Bedenken herzugeben.


Glücklicherweise gibt es im Haus aber auch die Oma, die sich um Andrea kümmert, sie unter ihre Fittiche nimmt und ihr die Freiheiten und Zuneigung genehmigt und schenkt, die die Mutter auch nicht in Kleinstmengen imstande ist, ihrer Tochter zuteil werden zu lassen.


Ein durchaus facettiertes Buch – nicht ganz schwarzweiß, doch insgesamt finster und in Grautönen skizzierte Erzählwelt, die in mancherlei Hinsicht durchschnittlich bleibt. Dennoch überzeugt die Protagonistin als Figur und Empathieträgerin, die Oma als helfende Engelfigur nebenan ebenso.

Zusammenfassend ist Gipskind ein tiefgreifendes Portrait einer jungen Frau, die durch immense Willenskraft und innerliche Arbeit alle ihre Umstände überwindet, um zu sich selbst zu finden. Und als Roman durchaus empfehlenswerte Lesekost.



Joachim B. Schmidt: Kalmann (2020)


Als klassischer Krimi beginnt dieses Buch mit dem Fund einer Blutlache auf der Halbinsel Melrakkaslétta. Dass ausgerechnet Kalmann diese entdeckt, kann zu einigen Folgerungen führen – da der junge Mann ein wenig anders ist als die restlichen Dorfbewohner.

Kalmann wird mit Forrest Gump verglichen: Er hat ein außergewöhnliches Talent zum Haifischjagen und bereitet den besten Gammelhai Islands zu. Er ist imstande, eine sehr detailgetreue Karte von Island aus dem Kopf heraus zu zeichnen.


Doch seine sozialen Kompetenzen gleichen denen eines pubertären Jungen. Immer wieder muss die Mutter ihn bändigen, oder die anderen Fischer ihm helfen, die blinde Aggression, die Kalmann oft überkommt, zu unterdrücken.

Schmidts Roman tarnt sich anfangs als Krimi, ist aber am ehesten als psychologischer Thriller und vor allem gekonnte Darstellung eines ungewöhnlichen Charakters zu beschreiben. Seine Schwächen definieren ihn nicht. Die fehlerhafte Menschlichkeit, die geistige Behinderung, und zeitgleich die absolute Sicherheit im Beruf und seiner Identität als Jäger machen aus Kalmann eine außergewöhnliche Figur.


Kalmann ist ein großartiger, vielschichtiger, unglaublich spannender Roman, der jedem dringend zu empfehlen ist.



Was waren eure Lieblingsbücher diesen Monat? Ich freue mich auf eure Kommentare.


Du möchtest meinen Blog unterstützen?

Kaffeekasse via PayPal
Buchwunschliste auf Amazon

Sollte ein von mir besprochenes Buch Dir gefallen, hast Du die Möglichkeit, es über die mit * gekennzeichneten affiliate Links zu bestellen. Dadurch verdiene ich eine Kommission. Dir fallen keine Zusatzkosten an.

Vielen Dank!




Kategorien:Home, Neuerscheinungen

Schlagwörter:, , , , , , , , , , , ,

1 Antwort

Trackbacks

  1. Literarische Abenteuer. Der Lesemonat im Rückblick, 11/2020 – Literary Escapades | Literarische Abenteuer

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

%d Bloggern gefällt das: