Tschechische Autorin Lucie Faulerová erforscht in ihrem explosiven Debütroman „Staubfänger“ eine regelrechte Plethora an heiklen Themen: Gewalt in der Familie, psychopathologisches Verhalten, Bewältigung von Traumata, orale Fixierung…
Lohnt sich diese ungemütliche, ungewöhnliche Lektüre?

Lucie Faulerovás Roman „Staubfänger“ fordert seine Leser:innen auf Anhieb und wiederholt zum Kampf heraus.
Denn zwischen Erzähler und Protagonistin herrschen ab Seite eins Unstimmigkeiten: die Figur ist selten zufrieden damit, wie sie dargestellt wird.
Andererseits ist der Erzähler imstande, lückenhafte Erinnerungen in der Lebensgeschichte der 28-Jährigen Anna zu ergänzen – denn geschwärzte Stellen nehmen zum Beginn der Handlung deutlich überhand.
Annas einsame Existenz besteht aus der beruflichen Tätigkeit als Callcenter-Agentin in der Telefonauskunft, aus einer grundlegend Smalltalk-basierenden Beziehung zu ihrer Schwester Dana –
und aus der klaffenden Leere, die es sich in ihrer Wohnung so gemütlich gemacht hat, dass die junge Frau auf dem Sofa schlafen muss, um sich geborgen zu fühlen.
Die in ihr herrschenden Gefühle – oder eben das vollständig fehlende emotionale Spektrum – sind allerdings vorrangig das Resultat von Unterdrückung, Negierung und einem Meideverhalten bezüglich jeglicher emotionaler Bindung.
Die erste ihrer vielen Mauern hat die Protagonistin aus Sarkasmus gebaut: sie versprüht sardonische Kommentare über ihr Umfeld, ihre Mitmenschen und deren Menschlichkeit. Das meiste kriegt diejenige ab, die Anna am nächsten steht.
„„Ich habe Kavis Hund entführt“, sage ich laut. Oder es war andersrum,
und ich habe es zuerst laut und dann innerlich zu mir selbst gesagt.
Und dann hat jemand gelacht, vielleicht war auch ich das.“(137)
Dass die Protagonistin drei Uhren braucht, die in ihrem Wohnzimmer nebeneinander ticken – und immer unterschiedliche Zeiten anzeigen – um einen Bezug zur Realität zu behalten; und dass diese Realität selten dem entspricht, was wirklich um sie herum passiert, ist für Leser:innen sosehr faszinierend, wie es für Anna entsetzlich sein muss.
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Die Stilgriffe der Autorin, von onomatopoetischen Neologismen bis hin zu offensichtlichen Wiederholungen von Wörtern, Sätzen und Gedanken, besitzen eine lyrische, malerische, geradezu erheiternde Aura.
Jedoch kontert die Protagonistin meistens direkt mit tödlichem Sarkasmus, um die entstehenden Bilder schnell mit düsteren Einwürfen zu überfluten. Denn schön ist ihr Leben keineswegs –
zumindest ist Anna selbst davon überzeugt, dass es noch nie schön war oder jemals schön werden kann.
Nach und nach etabliert sich auch die eigentliche Position und Funktion des Erzählers. Dieser versucht, sie zu beeinflussen und sich subjektiv über sie lustig zu machen; weiß über ihre Filmrisse und Aussetzer Bescheid; ist schließlich die Verkörperung von und Erinnerung an ihre Ängste darüber, was in den dunkelsten Winkeln ihres Gedächtnisses und ihrer Erinnerungen verborgen ist.
Denn genau dort, in der hintersten Ecke, kauern ihre unverarbeiteten schweren Kindheitstraumata.
„„Und deshalb hast du es geglaubt“, lachte der Erzähler.“(120)
Die am Surrealen anzapfenden Schilderungen von zum Leben erwachenden fantastischen Situationen und Figuren haben auf den ersten Blick widersprüchliche Auswirkungen. Andererseits ist das mutmaßlich die Idee des Ganzen: auf der einen Seite ein kräftiges Lachen und auf der nächsten entsetzte Schnappatmung hervorzurufen.
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Faulerovás impressionistisch-surreale Umsetzung vernachlässigt allerdings ihre Geschichte selbst. Ebenso fehlt fast jegliche organische Figurenentwicklung, für die genügend Potential und Raum dagewesen wäre.
Abgesehen vom Ende der Handlung – welches ich mir ebenso länger gewünscht hätte, da nach dem Klimax ein Ausklang fehlt.
Nach dem stilistischen Eklektizismus, der ausnahmslosen Präferenz von sarkastischer Verschleierung über fortlaufende Erzählung und der sich in Spiralen drehenden Chronologie bleibt wenig Kohärentes übrig, was zum emotionalen Investment in die Protagonistin einladen würde.
Es gibt explosive Stellen in der Handlung, die vollständig überraschend daherkommen und beim Lesen voll und ganz erstarren lassen:
„Ich erwarte, dass er mich fragt, warum niemand mit mir befreundet ist, warum ich niemanden habe, warum mich niemand will, warum mich niemand liebt, warum mich niemand mag.
Aber er fragt mich nicht.“(145)
Man muss trotzdem Lust und Motivation mitbringen, die Schichten von der Protagonistin abzuschälen, um ganz zum Schluss zum Kern ihrer Traumata zu gelangen.
Mehr Arbeit hätte die Autorin noch leisten können – zu dem Punkt, der Smalltalk zu einer echten Unterhaltung werden lässt, sind nur noch eine handvoll Seiten im Roman verblieben.
Lucie Faulerovás Debüt ist – gerade als Erstling – lobenswert. Der Text ist stilistisch persönlichkeitsstark, emotional mitreißend, voller explosiver Momente und intensiver Passagen. Um es zu einer hervorragenden Leseerfahrung werden zu lassen, fehlte leider noch ein Kapitel.
Wer mit Ironie, unzuverlässigen Erzähler:innen, und schwärzestem Humor gut umgehen kann, sollte sich dennoch unbedingt die Leseprobe anschauen.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Staubfänger
Autor:in: Lucie Faulerová
Übs.:in: Julia Miesenböck
224 Seiten | 22,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 02.09.2021
Verlag: homunculus
ISBN: 978-3-946120-98-8
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Ich muss einfach mal deponieren: Herzlichen Dank für Ihre Tipps. So kommt man auf Ideen, die man sonst nie gehabt hätte. Als Liebhaber von schwarzen Humor ist gerade das vorliegende Buch für mich wieder ein hochinteressanter Hinweis.
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Danke vielmals, Liebe Daphnis! In diesem Rahmen würde ich Ihnen auch wärmstens „Blütenschatten“ von Annalena McAfee empfehlen, ebenso hier besprochen.
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Klingt sehr experimentell, aber auch mal nach was anderem!
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