Zu den Sternen und zurück. Galsan Tschinag: „Kennst du das Land. Leipziger Lehrjahre“

Das Renommee des mongolischen Schriftstellers und Stammesoberhauptes Galsan Tschinag erstreckt sich weit über die Auszeichnung als erster Germanist aus der Mongolei hinaus. Der Autor wurde bereits mit dem Heimito-von Doderer-Preis, dem Bundesverdienstkreuz und zahlreichen anderen Literaturpreisen gekrönt.

Worin besteht diese große Faszination – und warum ist „Kennst du das Land“ der perfekte Einstieg in Tschinags Gesamtwerk?


© Unionsverlag

Galsan Tschinag heißt eigentlich Irgit Schynykbaj-oglu Dshurukuwaa. In der Westmongolei im Altai-Gebirge geboren, reist der junge Mann 1962 nach Leipzig, wo er ein Germanistikstudium beginnt.

Der autobiografische Roman „Kennst du das Land“ (2018) steigt mit der Ankunft des Studenten in der liebevoll als ‚Mutter Leipzig‘ benannten ostdeutschen Großstadt in die Handlung ein.

Der Roman behandelt nicht nur Tschinags Studienzeit in Deutschland: ebenso werden seine ersten Forschungsreisen zurück in die Heimat im Altai, die ersten Erfahrungen als Student und Lehrer sowie als Übersetzer beschrieben.

Parallel verfolgt der Roman die ersten Freundschaften und Liebesbeziehungen, beobachtet Konkurrenzkämpfe, wohnt dem Entstehen von Bündnissen bei und zeigt schonungslos Torheit sowie Naivität, die oft mit dem Verliebtsein eines jungen, unschuldigen Mannes einhergehen.


Kurz gesagt sind in diesem biografischen Roman über Tschinags Jugend und Studienzeit sämtliche Aspekte einer potenziell mitreißenden Lebensgeschichte vereint.

Diese Elemente eines klassischen Entwicklungsromans werden des Öfteren mit skurril-amüsanten kulturellen Besonderheiten ausgeschmückt – wie zum Beispiel die Gewohnheit der Mongolen, einander die Augen (zu diversen Zwecken) auszuschlecken:


Dauernd glaubte ich, deine quellvollen, himmelklaren Augen und deine blütenzarten, kindskleinen Händchen vor mir zu sehen, und wünschte mir so sehr, die Ersteren ausschlecken und die Letzteren anwärmen zu dürfen.“(124)


Dies ist nur eine merkwürdige Erkenntnis unter vielen, die an mehreren Stellen der Geschichte begegnen, vorrangig amüsieren – und unbemerkt den anthropologischen Horizont erweitern.

Der Autor weiß mit seiner Leserschaft zu spielen und hat die Entwicklung des Protagonisten aus einer wunderbar naiven Ich-Perspektive geschildert. Ein junger Tschinag trifft in Leipzig als unerfahrener, schüchterner Student ein, dessen wirtschaftliche Familiensituation keineswegs den anderen aus wohlhabenden russischen Oligarchenfamilien stammenden Kommiliton:innen gleicht.

Denn Galsan Tschinag entstammt einem kleinen westmongolischen Stamm, der von Russland noch nicht einmal unter ihrem richtigen Namen politisch anerkannt wurde.


So wird der Protagonist von Anfang an als klassischer Underdog positioniert: ohne irgendwelche von zu Hause aus gegebenen Vorteile, Kontakte oder Ausstattung, nur auf seine natürlichen Talente und Fähigkeit zur Selbstdisziplin angewiesen.


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Als Neuankömmling nicht nur in Leipzig, sondern in Europa, staunt Tschinag auf jedem Schritt über die hohe Kultur, die beeindruckende Architektur, die literarische Vielfalt – und muss inmitten kritischer Blicke den Umgang mit Messer und Gabel sowie anderen für uns normalen Alltagsgegenständen meistern.


Obwohl detaillierte Schilderungen scheinbar trivialer Tätigkeiten und täglicher Routinen anfänglich einen langatmigen Eindruck erwecken, ziehen Tschinags stilistische Stärke und kompositorisches Können schon zu Beginn der Handlung fest in ihren Bann.

Mit Rückblicken und humorvollen Vergleichen kontrastiert der Protagonist Westliches und Östliches – zunächst mit kindischer Bewunderung, doch recht bald mit analytisch-kritischer Treffsicherheit.


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Spätestens zur Rückkehr im Altai an der Seite einer deutschen Wissenschaftlerin gewinnt der junge Mongole einen neuen Blickwinkel auf die eigene Heimat, da ihm nun – in eigenen Worten – das Fremde bekannt und das Bekannte fremd geworden ist.


Tschinag reflektiert mit hochachtungsvoller emotionaler Sensibilität die Kontraste und Gemeinsamkeiten zwischen der germanischen und slawischen Kulturhistorie am Beispiel von Politik, Philosophie, Religion, Familienstrukturen, institutionellen Hierarchien und zwischenmenschlichen Details.

Darüber hinaus kann man aus „Kennst du das Land“ auch einiges über mongolische Sprachen erfahren, denn ebenso werden des Öfteren Verknüpfungen zwischen den oben erwähnten Sprachfamilien erstellt, wenn es um die Kommunikation zwischen Mitgliedern derselben geht.


Von Anfang an musste ich bei der Lektüre an Hermann Hesse denken: Tschinags ausschweifender Stil, der sowohl visuell als auch introspektiv reichhaltig ist, aus schwungvollen Sätzen und amüsanten Beobachtungen besteht, ermutigt zeitgleich zum Schmunzeln und zum Grübeln.


Das Grundgerüst unseres täglichen Gebets zu dem allmächtigen Wesen besteht einfach aus dankbaren Bekenntnissen, während das eure, wenn ich es richtig verstanden habe, zumeist aus Betteleien zu bestehen scheint.“ (194)


Zeitgleich wohnen diesem Roman ein lauernder Verrat, eine allgemeinmenschliche, den Protagonisten bedrohende Boshaftigkeit und ein ständig präsenter Weltschmerz inne. Nur leise zeigt sich die Last des Andersseins neben der charismatischen Kraft der Begeisterungsfähigkeit für neue Orte.

Recht schüchtern nähert sich der entscheidende Moment der Offenbarung – denn ab einem gewissen Punkt besteht kein Zweifel mehr an der Tatsache, dass der fleißige junge Mann von eigennützigen Personen ausgenutzt wurde, wo er selbst lebenslange Freundschaft und tiefe Gefühle vermutet hatte.


„Kennst du das Land“ ist eine faszinierende Auseinandersetzung mit der deutschen und der mongolischen Kultur; ein Reisebericht voller Offenbarungen, Überraschungen und nuancierten Weitblicken zwischen Ost und West; zwischen Kulturen, Traditionen, Sprachen und Seelen.


In einem wunderbar angenehmen Erzähltempo nimmt Galsan Tschinag seine Leser:innen mit auf seine erste große Reise. Mit Fahrrad, Zug, LKW und Pferd in neue Territorien auf politischen Landkarten und im eigenen Herzen – bis hin zur Begegnung mit dem anima mundi, der großen Weltseele, unter einem atemberaubenden Sternenhimmel.

Vor allem für Fans asiatischer Kulturen, multilinguale Denker:innen und Hesse-Verehrer:innen spreche ich an dieser Stelle eine uneingeschränkte Leseempfehlung aus.


Hier geht’s zur Leseprobe. (Link zur Verlagsseite)

Bibliografie:

Titel: Kennst du das Land. Leipziger Lehrjahre
Autor:in: Galsan Tschinag
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 13.09.2021 (Tb)
Verlag: Unionsverlag
ISBN: 978-3-293-20919-0

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