US-Amerikanischer Autor und Pulitzer-Preisträger Anthony Doerr ist mit seinen Erzählungen bereits weltweit bekannt und beliebt. Der 2015 mit dem Pulitzerpreis gekrönte Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ ist zu einem Weltbestseller geworden.
Doerrs neuestem Roman „Wolkenkuckucksland“ wohnt eine unübersehbare Magie inne. Lohnt sich die umfangreiche Lektüre jedoch wirklich?

Anthony Doerr spannt in seinem neuesten Roman „Wolkenkuckucksland“ außerordentlich ambitionierte kompositorische, temporale und inhaltliche Bögen.
Die Geschichte handelt von allgemeinmenschlichen, generationenübergreifenden Themen wie Macht, Liebe, Integrität und Hoffnung – und nimmt sowohl historisch als auch geographisch einen enormen Raum ein.
Die Exposition führt Lesende nach Konstantinopel im Jahr 1453; in eine Bibliothek in Idaho in den 1940er und 50er Jahren – und in ein Raumschiff in der Zukunft, auf dem Weg zu einem Exoplaneten.
Das mag auf den ersten Blick nach viel, verworren und verwirrend klingen.
Allerdings geht Doerr so sorgfältig und geschickt an seine Figuren und sein Material ran, dass die Lektüre ab Seite eins bis hin zu Seite fünfhundertdreißig vollständig fesselt, mitnimmt und in die tiefsten emotionalen Winkel vordringt.
Die Progatonist*innen sind Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden – hier können beispielsweise Stephen King-Fans oder Freund*innen von Carlos Ruiz Zafón die Ohren spitzen, denn sowohl die einzelnen Figurenporträts als auch ihre Schnittflächen zeichnet Doerr mit scharfem Auge für das jeweilig individualistische und zeitgleich in Anbetracht der in jedem der Figuren zu findenden allgemein- und zwischenmenschlichen Materie.
Anna, Omeir, Zeno, Seymour und Konstance leben zu unterschiedlichen Zeiten der Weltgeschichte. Und doch hängen ihre Geschichten auf unerwartete Art und Weise ineinander. Sie sind Außenseiter; Randfiguren; Fremde; Ausgestoßene.
Allerdings finden sie Zuflucht in Geschichten; in Bibliotheken; in Büchern; im Erzählen. So grausam ihre individuellen Lebenswege sich auch gestalten mögen, finden sie in der Literatur einen Ausweg aus ihren persönlichen Krisen.
„Das ist es, was die Götter tun, […] sie spinnen die Fäden des
Verderbend in den Stoff unseres Lebens, und das alles, um ein
Lied für kommende Generationen zu schaffen.“(216)
Jeder der Protagonist*innen muss ein bedrückendes Maß an Leid, psychischen oder emotionalen Qualen und Traumata über sich ergehen lassen – denn sie alle leben in Umbruchszeiten und erfahren auf eigener Haut Krieg, Krankheit, Tod und Trauer; Folter und Fesseln sind keiner der Figuren fremd.
Resistenzfähigkeit, starke Gemüter und ein unglaubliches Durchhaltevermögen in den schwersten Umständen zeichnet alle Figuren aus.
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Die gesamte Handlung wird durch eine Antike Erzählung zusammengewoben und verknüpft: „Wolkenkuckucksland“ von Antonios Diogenes ist eine an die „Metamorphosen“ von Ovid erinnernde Erzählung über den Schafhirten Aethon, der sich von einer Hexe in eine Vogel verwandeln lassen möchte, um in das mythische Paradies namens Wolkenkuckucksland zu fliegen.
Aufgrund einer unglücklichen Begebenheit muss der törichte Hirte stattdessen als Esel durch die Welt wandern, sich geißeln und ausnutzen lassen. Bis sein Wunsch sich über unerwartete Wege schließlich doch erfüllt…
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Die individuellen Geschichten der Protagonist*innen sind mit einer geballten Ladung an emotionaler und narrativer Spannung gefüllt: sie überwinden enorme Hindernisse, zweifeln an ihrem Wert, suchen nach dem Glück hinter Träumen und stoßen immer wieder auf unüberwindbare Abgründe und tödliche Gefahren.
So auch Diogenes‘ Hirte – im vermeintlichen Zwischenspiel, welches zum Ariadnefaden der gesamten Handlung wird.
Stilistisch wird Doerr seinen Figuren ebenso gerecht: jedes geschilderte Jahrhundert, jedes Milieu, jede atmosphärische Kulisse wird mit überdurchschnittlicher Authentizität ausgeschmückt. Die individuelle Sogwirkung der Erzählwelten ist immens.
„Und als er vor- und zurückblätterte, sah Aethon,
dass es keinen Frieden ohne Krieg gibt, kein Leben
ohne Tod, und er bekam Angst.“(493)
Wie das obige Zitat andeutet, ist die Handlung auch inhaltlich so wild und voller Überraschungen – von welche die meisten der entsetzlichen Variation entsprechen –, dass ein emotionaler Wirbelwind erzeugt wird, der Lesende so sehr emotional einnimmt, dass eine Unterbrechung der Lektüre hochgradig erschwert ist.
Dank gilt wiederum dem Autor, der sich seiner Kunst ganz klar bewusst war und die respektiven Kapitel immer recht kurzgehalten hat, sodass eine gelegentliche Pause dennoch genommen werden darf.
Über die inhaltlichen, stilistischen und kompositorischen Kategorien hinaus bietet „Wolkenkuckucksland“ denjenigen Lesenden einen besonderen Resonanzboden, die sich gerne mit Sprachen, Überlieferungen, Übersetzungen und etymologischen Fragen auseinandersetzen – denn die Geschichte von Antonios Diogenes wird zwischen den Protagonisten neu belebt und wandelt sich dementsprechend.
Wer beispielsweise bereits mit dem Altgriechischen Bekanntschaft gemacht oder mal einen Text übersetzt hat (ich selbst darf in beiden Fällen ein Häkchen machen) wird sich einer weiteren assoziativen Ebene sehr erfreuen können.
„Da gibt es den Aorist, ein Tempus, das an keine Zeit gebunden
scheint und in ihm den Wunsch auslösen kann, in einen Schrank zu
kriechen und sich in der Dunkelheit zusammenzurollen.“(406)
Quasi tragen die Protagonist*innen die Geschichte auf den Tafeln an, in und mit sich durch Jahrhunderte fort und wirken nicht nur bei der Enthaltung der physischen Seiten, sondern des Inhaltes mit.
Dass diesem Roman ein einzigartiger Zauber innewohnt, bestätigt schließlich die Magie der Rezeption der einzelnen Tafeln, die zwischen den Kapiteln ihren Platz finden und nach und nach die Helden der Geschichte miteinander verbinden.
„Genau das sind diese Manuskriptseiten: Superhelden.
Stellt euch mal die Wahnsinnsschlachten vor, die sie in den letzten
zweitausend Jahren überlebt haben: Überschwemmungen,
Feuersbrünste, Erdbeben, gescheiterte Regierungen, Diebe,
Barbaren, religiöse Eiferer, und wer weiß, was sonst noch.“(420)
Und so fungiert das mythische Paradies, das wunderschöne Wolkenkuckucksland, immer wieder als Ort des Verweilens, der Reflexion, der Zuflucht, und des Dialoges – sowohl bei den bemerkenswerten Figuren als auch im Herzen der Leserschaft.
Meinerseits kann hier nur eine uneingeschränkte Leseempfehlung mit Nachdruck gegeben werden, denn in Anthony Doerrs Roman ist für jeden Lesenden etwas dabei: Spannung und Abenteuer, Liebe und Innenwelten, Historie und Weltgeschehen, Science Fiction und Wissenschaft, Krieg und Ungerechtigkeit; Magie und Mythos.
Die Komplexität der Perspektiven wird einige Seiten in Anspruch nehmen, um sich in den Roman einzuleben – doch ist diese großartige Lektüre den Aufwand mehr als wert.
Meine einzige Kritik an diesem Roman ist, dass er irgendwann endete. Ich hätte noch weitere fünfhundert Seiten „Wolkenkuckucksland“ lesen können.
Aufmerksam gemacht hat mich auf diesen Roman vor allem der äußerst lesens- (und abonnierens)werte Bookster HRO. Seine Gedanken und Lobgesang zu „Wolkenkuckucksland“ findest Du hier.
Vielen Dank, lieber Stefan!
Hier geht’s zur Leseprobe.
Eine spoilerfreie Videobesprechung dieses Romans
findest Du auf meinem YouTube-Kanal.
Bibliografie:
Titel: Wolkenkuckucksland
Autor*in: Anthony Doerr
Übs.*in: Werner Löcher-Lawrence
532 Seiten | 25,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 04.10.2021
Verlag: C. H. Beck
ISBN: 978-3-406-77431-7
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Oh meine Güte, was für eine Rezension. Ich packe mir das Buch mal auf meine Leseliste. Zuerst dachte ich, es ist ein „Crossroads“-ähnlicher Roman, aber der Rezension entnehme ich, dass es eine Metastruktur und Sprachreflexion gibt, die ich oft vermisse. Ich bin gespannt. Danke für die Mühe und schöne stilistische Analyse, die mich sehr überzeugt hat, mir das Buch anzusehen.
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Vielen Dank! Die Reflexionen, zumindest mE, sind vorhanden. Bereits aus der Leseprobe wird das ersichtlich. Ich war zu Beginn übrigens auch skeptisch, der Roman hat mich sehr beeindruckt. 🙂
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